Wechselwirkungen

Grundlagenwissen Elektromagnetische Verträglichkeit

29. Oktober 2020, 10:54 Uhr | SGS
Elektrostatische Entladung (ESD) bis 15 kV
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Was gilt es, wie zu prüfen?

Normen zur Gerätesicherheit und Elektromagentischen Verträglichkeit (EMV) existieren schon lange, nicht nur für die Medizintechnik. So ähneln sich Messprinzipien im Allgemeinen, unabhängig davon, ob eine Kaffeemaschine, ein Fernseher oder ein Beatmungsgerät zur Prüfung steht. Von allen diesen aktiven elektrischen Geräten kann eine Gefahr für den Bediener ausgehen, zum Beispiel durch mangelnde Isolationseigenschaften. Auch die Beeinflussung anderer Geräte durch ihr elektromagnetisches Störfeld spielt eine wesentliche Rolle, sowie die Resistenz gegen solche. Im Unterschied zum Fernseher oder der Kaffeemaschine ist die Funktionalität der Medizintechnik unter diversen Einflüssen oftmals essentiell oder gar lebenserhaltend. 

Zu diesen möglichen Einflüssen zählen auch wechselnde klimatische Verhältnisse, mechanische Beanspruchung und Störungen von außen durch Strahlung. Immunität dagegen ist hier oberste Prämisse, um die Sicherheit des Patienten und der Anwender zu gewährleisten. Anhängig von der Einsatzumgebung können diese Anforderungen jedoch stark variieren und verlangen dem Design der Geräte einiges ab. So herrschen im Rettungshubschrauber andere Verhältnisse als in der Klinik. Das betrifft nicht nur die Stromversorgung, die Temperatur, Luftfeuchte und den atmosphärischen Druck, sondern auch Einfluss durch Vibrationen, Staub, Wasser oder schwankenden Lichtverhältnissenn. Hinzu kommt der Anspruch, dem Bediener möglichst wenige Möglichkeiten für Fehlbedienungen zu bieten, denn die Einsatzkräfte agieren häufig unter Zeitdruck und Fehler könnten sich fatal auswirken. Die Elektronik an Bord darf nicht beeinflusst werden und andersherum die Funktion des Medizingeräts nicht stören. 

Welche EMV-Anforderungen gilt es zu berücksichtigen?

Die Anforderungen an elektronische Geräte und Systeme bezüglich Elektromagnetischer Verträglichkeit (EMV) sind in den jeweiligen Einsatzgebieten teilweise sehr unterschiedlich. Die internationale Normung hat dazu in den letzten Jahrzehnten die Anforderungen definiert und kontinuierlich an aktuelle Gegebenheiten und neue Technologien angepasst. Während man innerhalb eines Krankenhauses eine definierte EMV-Umgebung sicherstellen kann, wird das in einer Arztpraxis oder innerhalb eines Wohn- und Gewerbebereiches beziehungsweise auf der Straße schon schwieriger. Die EMV-Anforderungen für Fahrzeuge und Flugzeuge und deren Komponenten sind mit den klassischen Anforderungen nicht vergleichbar und erfordern im Detail unterschiedliche Prüfaufbauten und sogar zusätzliches spezielles Prüfequipment in den EMV-Laboren. Nicht jedes Prüflabor kann alle erforderlichen EMV-Anforderungen eines Notfall-Medizingerätes testen. Werden nun Patienten im Rahmen eines Notfalleinsatzes oder Transports in Fahrzeugen, Hubschraubern oder Flugzeugen behandelt, muss zum einen sichergestellt sein, dass das Medizingerät durch seinen Betrieb andere Systeme in dieser Umgebung nicht stört. Es muss also die jeweiligen EMV-Emissionsanforderungen einhalten. Zum anderen muss natürlich gewährleistet sein, dass das Medizingerät auch in diesen Umgebungen ordnungsgemäß funktioniert und nicht durch spezifische EMV-Störungen unzulässig beeinflusst wird.

Die 4. Edition der IEC 60601-1-2 hat mit ihren Anforderungen diese Situation bereits teilweise berücksichtigt. Neben der klassischen Krankenhaus-Umgebung werden zum einen höhere Anforderungen für den Bereich der häuslichen Gesundheitsfürsorge, aber auch für den Einsatz in Flugzeugen (RTCA DO-160G und Fahrzeugen (CISPR 25 und ISO 7637-2 definiert. Für die Anforderungen zum Einsatz in Fahrzeugen bieten zusätzlich sowohl die EN 50498 für Aftermarket-Equipment sowie die ECE R10 einen Ansatz zur Definition der Anforderungen. Eine weitere wesentliche Änderung im Rahmen der 4. Edition ist die Definition der Störkriterien im Rahmen der Immunity-Tests bezüglich pass/fail-Kriterien basierend auf Basic Safety und Essential Performance. Die bei der klassischen EMV üblichen klaren Performance-Kriterien gibt es in dieser Norm leider nicht. Dieser Zusammenhang bildet eines der Hauptprobleme für die Anwendung der 4. Edition der IEC 60601-1-2. Damit das EMV-Labor weiß, was es wie in welchem Umfang testen muss und welche Reaktionen das Medizingerät bei den Immunity-Tests zeigen darf, muss entsprechend Kapitel 6.2 und Anhang G vom Kunden vor Beginn der Tests ein Testplan erstellt werden. 

Welche EMV-Tests sind relevant?

Bisher hat der Kunde sein Medizingerät mehr oder weniger einfach beim EMV-Labor zum Testen abgegeben und Funktion und Eigenschaften definiert, ohne eigentlich genau wissen zu müssen, welche EMV-Tests dahinterstehen. Dagegen muss im Rahmen der 4. Edition über das Risikomanagement und den Testplan das medizinische System genau hinsichtlich möglicher Risiken für alle einzelnen relevanten EMV-Tests analysiert werden. Literarisch betrachtet, muss hinsichtlich EMV die mögliche Achillesferse am Prüfling gesucht und definiert werden. Dazu sind neben der Kenntnis der einzelnen EMV-Phänomene vor allem detaillierte Kenntnisse über Design und Funktion des Medizingerätes erforderlich. Deshalb kann diese Arbeit nicht von den Prüflaboren übernommen werden, die hier bei Bedarf nur unterstützen können. 

Es könnte als eine Art Schwäche des Ansatzes der 4. Edition der IEC 60601-1-2 betrachtet werden, dass im Rahmen der pass/fail-Kriterien in Bezug auf die Immunity-Tests der Schwerpunkt im Wesentlichen nur auf der Sicherheit des Geräts für den Patienten und den Anwender liegen und nicht auch explizit auf der Performance des Gerätes, damit auch im realen elektromagnetischen Umfeld die erwartete Funktionalität gegeben ist. Das bedeutet, dass im Rahmen eines EMV-Tests unter bestimmten Randparametern sogar ein Defekt auftreten darf, solange damit die Gesundheit des Patienten nicht gefährdet ist. Im Vergleich zu nahezu allen anderen EMV-Produktnormen ein klares No-Go. 

Hintergrundinformationen zu dieser Problematik und auch ein sehr empfehlenswerter technisch formaler Ansatz findet sich in IEC TR 60601-4-2. Während in der 4. Edition die Prüfpegel für die Basic Safety und Essential Performance hinsichtlich der vernünftigerweise vorhersehbaren Höchstwerte der elektromagnetischen Phänomene definiert werden, geht die IEC TR 60601-4-2 von einer ordnungsgemäßen Funktion bei typischen Beeinflussungsgrößen aus, also dass das medizinische System also genau das tut, wofür es eigentlich vom Krankenhaus oder dem Arzt gekauft wurde. 

In der Praxis der EMV-Qualifikation bedeutet das unter anderem, dass im Rahmen der ESD-Tests bei maximalen Prüfpegeln von 8/15 kV die Basic Safety und Essential Performance sowie bei typischen Pegeln von 4/8 kV die Performance eingehalten werden muss. Die Kombination der Ansätze dieser beiden Normen im Rahmen des Risikomanagements und Testplans für die EMV-Qualifikation stellt die fundamentale Basis für eine erwartbare Funktionalität und erforderliche Sicherheit im medizinischen Bereich dar. 

Was heißt das für den Hersteller?

Grundsätzlich sollten Hersteller von Medizintechnik bei der Wahl eines geeigneten Prüflabors vor allem auf dessen Erfahrung in diesem Bereich achten sowie auf dessen technische Ausstattung, sodass möglichst viele Prüfungen aus einer Hand durchgeführt werden können. Ein weiterer Vorteil ist zudem die Internationalität des Prüf- und Zertifizierungspartners. Denn je nach Zielmarkt ergeben sich an ein Medizingerät noch weitere Anforderungen, die beachtet und abgeprüft werden müssen. Damit sie jederzeit zuverlässig funktionieren – sowohl im Klinikumfeld als auch bei Minusgraden und Schneefall im Außeneinsatz.

Die Autoren

Andreas Michel ist Business Development Manager Medical Devices bei SGS Germany

Josef Bauer ist Lab Manager Operations EMC bei SGS Germany

Das Unternehmen

Die SGS-Gruppe gehört mit mehr als 94.000 Mitarbeitern zu den weltweit  führenden Prüf- und Zertifizierungsunternehmen. Das Münchener Testlabor der SGS unterstützt Hersteller von Medizintechnik beispielsweise zu Fragen der Elektromagnetischen Verträglichkeit, Produktsicherheit und Umweltsimulation. 

Mehr Information finden Sie unter www.sgsgroup.de   


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