Ablenkung total

Denkzentrale im digitalen Dauerstress

30. Juli 2019, 16:58 Uhr | Petra Kaminsky
Immer online, für immer blöd? Das untersuchen gerade mehrere Wissenschaftler.
© Pixabay

Lesen, Freunde in Netzwerken kontaktieren, mit der App navigieren - vieles läuft digital. Unser Gehirn reagiert auf die neuen Reize. Doch wie? Was verändert die Dauerpräsenz von Smartphones im Kopf des Menschen? Eine Spurensuche.

Noch ist die Digitalisierung in vollem Gange. Der Smartphone-Boom etwa läuft erst seit etwas über zehn Jahren - zu kurz für große Langzeit-Studien. Trotzdem: Menschen nutzen vermehrt Navigationsapps statt Straßenkarten, Tablets statt Bücher, Einpark-Hilfen im Auto und sprechende Assistenten zu Hause. Oft deuten sich Zusammenhänge an, aber ob ein Geschehen wirklich Ursache eines Wandels im Kopf ist, bleibt häufig erstmal unklar. Aktuell forschen Wissenschaftler auf der ganzen Welt zum Thema Smartphone und Gehirn. Sie wollen wissen, welche Spuren die Dauerpräsenz der mobilen Begleiter in den Köpfen hinterlässt.

In Großbritannien veröffentlichte die Gesundheitsorganisation RSPH einen Report zu sozialen Netzwerken und der Gesundheit junger Menschen. Ein wichtiger Punkt: Das Handy am Bett, das Checken, um nachts nichts zu verpassen, kann den Schlaf massiv stören. Einer von fünf Jugendlichen kontrolliere nachts seine Netzwerke. Für den Aufbau des jungen Gehirns jedoch ist viel Schlaf essenziell, wie die Studienmacher betonen.

In den USA machte der Psychologe Adrian F. Ward bei zwei Versuchen, die er 2017 mit Kollegen präsentierte, spannende Entdeckungen: Allein die Nähe des eigenen Smartphones reicht danach aus, dass Menschen bei Testfragen schlechter abschneiden. Liegt das Gerät in einem anderen Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter. Ward schlussfolgert, dass ein nahes Handy uns so in Beschlag nimmt, dass Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeitsgedächtnis in den Stirnlappen der Großhirnrinde, im Präfrontalen Cortex, etwa. Es kann dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brauchen es unter anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logischen Denken ist es ebenfalls aktiv.

Wie viel Ablenkung ist gesund?

Dass digitale Techniken in diesem wichtigen Hirnteil Spuren hinterlassen, berichten auch Wissenschaftler vom Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen. Untergebracht in einem imposanten Gelbklinkerbau, mit Blick auf die mittelalterliche Innenstadt, erforschen rund 90 IWM-Wissenschaftler, wie Computer, Tablets und Internet Lernen und Lehren verbessern können. Sie nutzen  Eye-Tracking und EEG-Hauben.

»Digitale Medien sind per se weder gut noch böse«, stellt Psychologie-Professorin Ulrike Cress, 53 und Direktorin des Instituts, klar. »Sie haben bestimmte Eigenschaften, die das Denken beeinflussen. Wir analysieren, wie wir Medien besser nutzen, um Lernprozesse zu erleichtern. Und wie wir negative Effekte vermeiden, etwa - bezogen auf das Internet - die Überlastung des Gehirns durch zu viele Informationen.«

Links im Text lenken ab

In Versuchen ließen die Tübinger ihre Testpersonen Wikipedia-ähnliche Texte, die Links zum Weiterklicken enthielten, zum Lernen nutzen. Und im Vergleich dazu Texte ohne Verlinkungen. Das Ergebnis: Links bedeuten Ablenkung. »Schaut man auf das gleiche Wort, wenn es als Link markiert ist, wird die Pupille messbar größer, ein Indikator für kognitive Belastung.« Das Gehirn springt an, und zwar das Arbeitsgedächtnis. Dabei werden offenbar Ressourcen benötigt, die auch zum Lernen wichtig sind. Das Lern-Ergebnis kann sinken.

»Das Spannende ist: Links lenken sogar dann ab, wenn sie nicht aufgemacht werden - nur weil sie vorhanden sind«, so Arbeitsgruppenleiter Peter Gerjets. Die Erklärung: Der Link kann einen Impuls im Kopf auslösen, den Wunsch auf die neue Netzseite zu springen. Den muss das Gehirn unterdrücken. »Und auch ein Unterdrücken belastet das Arbeitsgedächtnis.«

Back to the roots?

Passend dazu können Forscher zeigen, dass lange Informationstexte aus Büchern und von Papier im Gehirn besser erinnert werden, als wenn sie aus dem Netz gefischt wurden. Die US-amerikanische Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin  Maryanne Wolf warnt, dass sich das Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohnheiten insgesamt daran gewöhnen könnte, flach und ungeduldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen so einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. (dpa/me)


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