Die Lehre vom Nichtwissen

Die Medizin der Zukunft beugt vor

6. Oktober 2022, 8:07 Uhr | Ute Häußler
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»Mens sana in corpore sano« – schon die alten Römer wussten, wie eng die körperliche und geistige Gesundheit verbunden sind. Eine eher skurrile Korrelation haben Hannoveraner Wissenschaftler erforscht: Das Spritzen von Botox lässt Menschen nicht nur jünger aussehen, sondern lindert auch Depression.

Digitalisierung Medizintechnik medizin 4.0 Ute Häußler
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Sie lesen das Editorial der Ausgabe 4-5 der Medical Design, 2022.

Liebe Leserinnen und Leser,

die Denker- oder Zornesfalte steht vielen Menschen sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben. Wird das Nervengift Botulinumtoxin in die Region über der Nasenwurzel gespritzt, lähmt es nicht nur die für die Sorgenfalten verantwortlichen Muskeln zwischen den Augenbrauen, sondern bringt einen überraschenden Nebeneffekt: Weil Mimik und physisches Empfinden eng verbunden sind, vermittelt eine Botox-entspannte Stirn ein positiveres Lebensgefühl und hebt die Stimmung. Die positiven Auswirkungen im Gehirn sind sogar auf einem MRT sichtbar.
 
Den Blick ins menschliche Gehirn wagen auch sächsische Max-Planck-Forschende, sie bestimmen mithilfe künstlicher neuronaler Netzwerke aus Hirnbildern das genaue biologische Alter eines Menschen. Wenn der Computer das Alter höher als die reale Zahl an Lebensjahren einschätzt, kann dies auf unerkannte Krankheiten oder Verletzungen hinweisen.

So sind Gehirne von Menschen mit Diabetes oder kognitiven Erkrankungen meist in einem biologisch schlechteren Zustand, sie weisen vermehrt kleine Risse, Vernarbungen, Hohlräume oder Furchen auf. Das besondere an der Leipziger Forschung: Die Wissenschaftler haben die Blackbox KI entschlüsselt und können genau zeigen, welche Regionen und Merkmale des Gehirns für ein höheres oder niedrigeres biologisches Alter sprechen. Der Algorithmus soll damit auch helfen, Tumore oder Alzheimer schneller zu erkennen.
 
Die frühzeitige Diagnose entwickelt sich zum Gamechanger der modernen Gesundheit. Für die Jubiläumsausgabe zum 70. Geburtstag unserer Schwesterzeitschrift Elektronik habe ich zwölf MedTech-Experten zur Medizin der Zukunft befragt. Diese wird sich nach einhelliger Ansicht aller Befragten durch die engere Verzahnung von medizinischer Hard- und Software wie z. B. Wearables, künstlicher Intelligenz und geteilten Gesundheitsdaten mehr und mehr von der reinen Behandlung zur vorbeugenden Prävention entwickeln. Arthur Kaindl von Siemens Healthineers fasst das Potenzial künftiger Medizintechnik treffend zusammen: »Anstelle Patienten ›nur‹ zu heilen, wenn sie bereits krank sind, erkennen und verhindern wir, dass sie überhaupt krank werden.«

Tritt diese Prognose ein, leben wir in ständiger Vor-Sorge und körperlicher Überwachung. Neben den positiven körperlichen Aspekten stellt sich mir die Frage, wie dies auf die geistige Gesundheit wirkt. Wie lebt sich ein Leben, dessen Krankheiten und Ablaufdaten vorab bekannt sind? Agnotologie, die Lehre vom Nichtwissen, könnte in diesem Falle auch gesund sein.

Bis dahin, alles Gute für Sie!

Ihre

Ute Häußler


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