Sorge um Medizinprodukte mit PFAS

»Es droht ein unbeabsichtigtes Hightech-Verbot«

22. Mai 2023, 11:45 Uhr | Ute Häußler
© Pixabay

Der Industrieverband Spectaris und sein Medizintechnik-Beauftragter Dr. Martin Leonhard warnen vor dem Verbot der »Jahrhundert-Chemikalie« PFAS und den möglichen Folgen für die Medizintechnik. Doch was sind PFAS überhaupt und wie schädlich sind sie?

In einer Pressemitteilung und in mehreren Medien veröffentlichten Kommentaren warnen Spectaris und sein Medizintechnik-Beauftragter Martin Leonhard davor, dass ein pauschales PFAS-Verbot den Einsatz unverzichtbarer Hochleistungswerkstoffe vielfach unmöglich mache und die technologische Souveränität und Versorgungssicherheit in der EU massiv beeinträchtigen würde.

Was sind PFAS und wie gefährlich sind sie?

Mit mehr als 4 700 chemischen Stoffen sind per- und polyfluorierte Alkylverbindungen (PFAS) eine Gruppe von künstlich hergestellten und in großem Maßstab eingesetzten Chemikalien, die sich im Laufe der Zeit im menschlichen Gewebe und in der Umwelt anreichern. Die Chemikalien-Gruppe zeichnet sich durch Stabilität aus, die Stoffe sind dazu wasser-, schmutz-, und fettabweisend. Wegen dieser Eigenschaften kommen PFAS in Produkten wie Outdoor-Kleidung, Kochgeschirr, schmutzabweisenden Teppichen oder Nahrungsmittelverpackungen zum Einsatz. Zudem finden sie in einer Vielzahl von industriellen Prozessen Verwendung. PFAS verbleiben stabil - sie sind unter der Bezeichnung »langlebige« bzw. »persistente« Chemikalien bekannt, da sie in der Umwelt und im Körper äußerst lange nachweisbar sind. Sie können zu Gesundheitsproblemen wie Leberschäden, Schilddrüsenerkrankungen, Fettleibigkeit, Fruchtbarkeitsstörungen und Krebs führen.

Einen ausführlichen Bericht zu den PFAS-Folgen für Umwelt und Mensch hat National Geographic erstellt.

Hintergrund PFAS-Verbot

Im Januar 2023 haben Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Norwegen den Entwurf einer umfassenden Beschränkung von PFAS bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) eingereicht und damit den Beginn eines pauschalen Beschränkungsverfahrens eingeleitet. Ziel ist es, die Herstellung und Verwendung aller PFAS zu verbieten, unter anderem auch das Inverkehrbringen von PFAS-haltigen Erzeugnissen in die EU. Die Begründung für das pauschale Verbot einer ganzen Stoffgruppe von über 10.000 Einzelsubstanzen ist neben ihrer teilweise nachgewiesenen Toxizität ihre persistente Eigenschaft, das heißt, sie werden in der Natur nicht abgebaut. Zahlreiche PFAS-Stoffgruppen, die sogenannten „PFAS of low concern“ werden von Wissenschaftlern jedoch als weniger bedenklich eingestuft. Zudem erfolgt der Einsatz von PFAS in der Industrie zumeist in geschlossenen Systemen.

PFAS-Kommentar Martin Leonhard

Dr. Martin Leonard ist Vorsitzender Medizintechnik im Deutschen Industrieverband Spectaris und Bereichsleiter bei Karl Storz. In einem Kommentar im Plastverarbeiter fasst er seinen Standpunkt wie folgt zusammen:

»Um einem kursierenden Gerücht entgegenzutreten: Medizinprodukte sind vom PFAS- Beschränkungsvorschlag nicht generell ausgenommen. Ausgenommen sind „medicinal products“, also Human- und Veterinär-Arzneimittel, in denen PFAS als aktive Substanz vorkommen.

Würde der Entwurf Gültigkeit erlangen, würden wir in der medizinischen Versorgung in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurückversetzt. Kontaktlinsen und Kunststoffbrillengläser gäbe es nicht mehr mit der heute bekannten Funktionalität. Diagnosemöglichkeiten von Ultraschall, CT oder Kernspin wären undenkbar. Harnableitende Katheter würden leichter mit der Harnröhre verkleben, Herzkatheter nicht reibungsarm und nur mit dem unerwünschtem Haft-Gleiteffekt bis in die Koronargefäße gelangen. Vergessen wir auch Implantate wie Herzschrittmacher oder die Möglichkeiten der Dialyse. Im Operationssaal gäbe es weder moderne Narkose- noch Beatmungsgeräte, Operationen würden nicht mehr minimalinvasiv oder endoskopisch möglich sein: Vergessen Sie Ihre Blasenspiegelung oder die Darmkrebsvorsorge.«

Laut Leonhard benötigen ca. 150.000 aller bis zu 500.000 verschiedenen Medizinprodukte PFAS-Materialien für ihre Funktion. Er geht davon aus, dass rund ein Drittel aller in Deutschland durchgeführten Operationen PFAS-relevante Produkte verwenden. So vermeiden minimalinvasive Verfahren die Risiken großer (Bauch-)Schnitte, ein größer werdender Teil der Eingriffe kann ambulant oder teilstationär durchgeführt werden. All das wäre laut Leonard mit der weitreichenden PFAS-Beschränkung vorbei.

»In der Medizintechnik werden vor allem Fluorpolymere und -elastomere eingesetzt, meist „Polymers of Low Concern“. Für uns sind das Hochleistungswerkstoffe. Sämtliche Materialien, die in Körperkontakt kommen, müssen die Biokompatibilität, sozusagen ihre Ungiftigkeit nach DIN EN ISO 10993 nachweisen.«

Leonard fordert daher: »Was wir brauchen, sind generelle Ausnahmen für diese PFAS-Untergruppe, weil wir auch in funktionierenden Lieferketten denken müssen. Medizintechnikunternehmen produzieren in der Regel keine PFAS, wir verwenden entweder Halbzeuge, die ihrerseits keine Medizinprodukte sind, wir funktionalisieren Oberflächen mit Dienstleistern oder wir verwenden Elektronik. Diese Technologiepartner sind in der Regel keine Medizinproduktehersteller, auch Zwischenhändler nicht. Ferner brauchen wir PFAS in unseren Produktionsanlagen, hier ist das Ende der Fahnenstange noch gar nicht abzusehen. Was wir brauchen, sind gut kontrollierte Produktions-, Recycling- und Entsorgungsprozesse. Letztere regelt das Kreislaufwirtschaftsgesetz auch für medizinische Einrichtungen.«

Der Medizintechnik-Experte bei Spectaris formuliert aus Industriesicht starke Worte: »Was uns droht, ist ein Rückfall ins letzte Jahrhundert. ... Wurde die Vorgabe der EU-Kommission, PFAS schrittweise aus dem Markt zu nehmen (»phase- out«), essenzielle Anwendungen aber explizit auszunehmen, angemessen umgesetzt? Nicht nur mir kommen da Zweifel. ... Ziel des Entwurfs sei es gewesen, einen möglichst weitgehenden Beschränkungsvorschlag vorzulegen. Das haben wir wahrlich bekommen. Ohne Rücksicht auf Verluste.«

Können PFAS ersetzt werden?

Laut chemietechnik.de gibt es nur wenig Möglichkeiten, PFAS zu umgehen. Viele Produkte, in denen die Chemikalien enthalten sind, sind für die industrielle Produktion hochrelevant, und werden zum Teil bereits weit in der vorgelagerten Lieferkette hergestellt, Ein Verbot von PFAS würde daher zahlreiche Industrie-Unternehmen würde vor Probleme stellen.

Doch natürlich gibt es auch Ansätze für eine PFAS-freie Welt: »Bei Bekleidung wie Outdoorjacken gibt es bereits entsprechend beworbene Produkte. Statt einer beschichteten Pfanne funktioniert auch eine Eisen- oder Emaillepfanne. ... Und Mehrweggeschirr aus Glas oder Porzellan statt beschichteter Einmal-Pappbecher ist ohnehin besser für die Umwelt. Auch bei Imprägniermitteln kann man anstelle PFAS-basierter Sprays auf natürliche Fette und Wachse zurückgreifen; bei Teppichen statt auf PFAS-Beschichtung auf die natürliche Schmutzabweisung von Wolle«, schreibt chemietechnik.de.

In vielen Anwendungen ist der Ersatz von PFAS jedoch noch völlig ungeklärt. Die vorhersehbar langwierige Transformation wäre für die Medizintechnik dementsprechend mit Forschungs- und Entwicklungsaufwänden verbunden, die in der aktuell bereits volatilen Lage für viele Firmen zur Unzeit kommen dürfte. (uh)


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