Produktionsausrüstung

Medizintechnik erfordert komplexe Fertigungsverfahren

26. Mai 2020, 10:00 Uhr | Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken
Verfahrensgemischte Automationszelle für die Medizintechnik
© Exeron

Werkzeugmaschinenhersteller sollten Einstieg in die Branche sorgfältig planen

Gegenwärtig erscheint die Medizintechnik als Perle in der deutschen Industrielandschaft. Doch wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten. Kaum eine Branche ist stärker reglementiert. Mit der neuen europäischen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) wurde die Messlatte noch einmal höher gelegt. Werkzeugmaschinen, die für die Fertigung von Implantaten und chirurgischen Instrumenten oder etwa für mikrogefräste Prothesengeometrien eingesetzt werden, müssen ein Höchstmaß an Präzision und Zuverlässigkeit bieten. Qualitätssicherung spielt die entscheidende Rolle.

»Wer in die Medizintechnik einsteigen will, muss wissen, worauf er sich einlässt«, betont Christian Rotsch, Leiter der Abteilung Medizintechnik beim Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU), Dresden/Chemnitz. Eine Zertifizierung nach ISO 9001 sieht er als Grundvoraussetzung an. Das Fraunhofer IWU selbst ist nach der ISO 9001 und der Qualitätsmanagementnorm ISO 13485 für Medizinprodukte zertifiziert.

Fertigungsverfahren und Materialien im Mittelpunkt

Das Fraunhofer IWU ist an verschiedenen Projekten im Bereich der Medizintechnik beteiligt, wobei vor allem Fertigungsverfahren und Materialien, aber auch die Biomechanik und die Überführung von Projektergebnissen in die klinische Behandlung im Fokus stehen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dabei ein Muss. Unter anderem geht es um die Technologienentwicklung für spanende, abtragende und umformende Verfahren in der Präzisions- und Mikrofertigung.

Daneben werden etwa knochenähnliche Strukturen erforscht, die sich durch zellulare Strukturen zum Beispiel aus Metallschaum oder mit Hilfe generativer Fertigungsverfahren herstellen lassen. Durch Massivumformung wird versucht, Materialeigenschaften zu verbessern. Wenngleich immer häufiger additive Fertigungsverfahren zum Einsatz kommen, um etwa individualisierte patientenspezifische Implantate zu realisieren, so sieht Rotsch den hohen Anteil konventioneller Verfahren nicht gefährdet: »Ohne Zerspanung und die entsprechenden Werkzeugmaschinen wird es auch zukünftig nicht funktionieren.«

An den Projekten, an denen die Chemnitzer Wissenschaftler arbeiten, sind seitens der Werkzeugmaschinenhersteller sowohl mittelständische als auch große Unternehmen beteiligt. Christian Rotsch sieht sehr gute Chancen für KMU, mit Speziallösungen und Sondermaschinen etwa im Bereich der Mikro- und Endbearbeitung erfolgreich zu sein. Gefragt seien zudem komplette Prozessketten, möglichst mit Roboterunterstützung.

Höchste Qualität prozesssicher herstellen 

Das belegt ein Beispiel der Firma Exeron aus Oberndorf am Neckar, Systemlieferant von Senkerodier- und Hochgeschwindigkeits-Fräsmaschinen. In Zusammenarbeit mit Erowa (Büren, Schweiz) und Certa Systems (Nürnberg) entwickelte das Unternehmen eine verfahrensgemischte Automationszelle für Aesculap, Tochterunternehmen des B. Braun-Konzerns und Hersteller von Produkten aus dem Bereich Chirurgie, Orthopädie und interventioneller Gefäßmedizin mit Sitz in Tuttlingen.

Aesculap hat das Problem, dass benötigte Bauteilgeometrien mitunter so klein, filigran und verwinkelt sind, dass sie sich nicht mehr fräsen lassen, sondern senkerodiert werden müssen. Durch manuelle Umrüstprozesse drohte zudem immer die Gefahr, dass sich Ungenauigkeiten einschleichen. Exerons Fertigungskombination Fräsen, Senkerodieren, Reinigen und Messen, der Zuwachs an Präzision und Geschwindigkeit durch das Nullpunktspannsystem von Erowa sowie die Automatisierung im Fertigungsverbund durch das Prozessleitsystem von Certa Systems brachten die gewünschte Genauigkeit. 

Entscheidend sei, so Udo Baur, Vertriebsleiter Deutschland und Europa bei Exeron, dass man sich auf die besonderen Bedürfnisse dieser sensiblen Branche einstelle und auch bereit sei, ungewöhnliche Wege zu beschreiten oder besonderen Service zu bieten. Dazu gehört die Unterstützung bei der Produktfreigabe. So wurde die Auto-mationszelle zunächst bei Exeron in Betrieb genommen und erst nach erfolgter Produktfreigabe an den Kunden übergeben.

Spezielle Anforderungen erfordern eigene Herangehensweise

Von den sehr speziellen Anforderungen an Werkstoffe, Bearbeitungskonzepte und Werkzeuglösungen berichtet auch Christian Thiele, Pressesprecher der Hartmetall-Werkzeugfabrik Paul Horn: »Die Erfahrungen aus anderen Branchen können nur begrenzt übernommen werden.« Er sei in einigen Themenfeldern mit speziellen und einzigartigen Werkzeuglösungen unterwegs, zum Beispiel beim Wirbeln von Knochenschrauben.

Der Präzisionswerkzeughersteller konnte durch Innenkühlung des Wirbelwerkzeuges die Standzeiten deutlich erhöhen und gleich-zeitig die Gefahr eines Spänestaus verhindern. In der Medizintechnik dient das Wirbeln der Herstellung von genauen und formstabilen Knochenschrauben aus Titan und rostfreien Stählen. Spezielle Lösungen bietet das Unternehmen darüber hinaus für die Bearbeitung von chirurgischen Instrumenten mit besonders geschliffenen Fräswerkzeugen oder mit speziellen Fräsern mit hoher Frästiefe und sehr schmaler Schneidbreite für chirurgische Zangen. Das Unternehmen forsche zudem im Bereich der Schneidstoff-Beschichtungslösungen für Werkstoffe in der Medizintechnik und in Verbindung mit den Schnittbedingungen bei Medizinprodukten.

Aufwand für Medizinprodukte steigt weiter

IWU-Experte Christian Rotsch befürchtet, dass der Aufwand für neue Produkte im Bereich der Medizintechnik künftig noch extrem steigen werde. Bereits jetzt sei zu spüren, dass die Anforderungen durch die Medical Device Regulation die Hersteller von Medizinprodukten zunehmend »stressen« und sie dies auch an Maschinen-hersteller und Zulieferer weitergeben.

Dennoch ist Rotsch überzeugt, dass sich der Einstieg in die Medizintechnik für Werkzeugmaschinenhersteller und Zulieferer weiterhin lohnt. Neue Impulse sieht er durch additive Verfahren, sofern die Nachbearbeitung automatisiert werden kann, durch die Integration neuer Funktionen sowie den Trend von Massen- zu Individualprodukten. Wichtigster Erfolgsfaktor für die Unternehmen bleibe jedoch stets die Frage: Wie können wir die regulatorischen Aspekte und die Qualitätssicherung gestalten?

Von den Wachstumsperspektiven der Medizintechnik ist auch VDMA-Experte Niklas Kuczaty überzeugt, auch wenn nicht damit zu rechnen sei, dass sie jemals das Volumen der Automobilbranche erreicht. Dafür ist sie deutlich weniger konjunktur-abhängig. In jedem Fall müssten Unternehmen, die sich für den Einstieg entscheiden, davon ausgehen, dass sie mindestens zwei bis drei Jahre investieren müssen, bevor sich ein Erfolg einstellt. Der lange Atem zahle sich aber aus, so Kuczaty, wenn nicht gleich, dann vielleicht rechtzeitig vor der nächsten Krise. (me)


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