Digitale Zwillinge in der Medizin

Das Herz schlägt virtuell

19. April 2023, 15:07 Uhr | Ute Häußler
© Dassault Systemes

Die Heilung bisher unheilbarer Krankheiten ist eine große Motivation, neue Medizintechnologien zu entwickeln. Ein herausragendes Beispiel ist das Living-Heart-Projekt von Dassault Systèmes. Exklusiv-Interview mit Steve Levine zum Konzept und Potenzial von virtuellen Zwillingen in der Medizintechnik.

Herr Levine, wie ist die Idee zum Living-Heart-Projekt entstanden?

Den virtuellen Zwilling gibt es schon seit vielen Jahrzehnten, in Branchen wie der Automobilindustrie ist er längst Standard. Kein Auto wird heute noch ohne vorherige Simulationen gebaut. Die MedTech-Branche und der menschliche Körper schienen lange zu komplex für diesen Ansatz. Doch als meine Tochter mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt kam, hat es mich tief getroffen, nicht helfen zu können. Ich fragte mich: Warum sind wir nicht in der Lage, Medizintechnikern und Ärzten die gleiche Technologie zur Verfügung zu stellen wie den Ingenieuren in der Industrie? Wenn man 20 oder 30 Jahre zurückgeht, schien das auch dort eine verrückte Idee zu sein.

Was war die initiale Schwierigkeit dieses Projektes?

Am Anfang war es schwierig, diese – für die Medizintechnik damals ungewöhnliche – ganzheitliche Arbeitsweise zu transportieren. Der Prototypen-Mechanismus für den menschlichen Körper existierte schlicht nicht. Wir mussten lernen, wie das, was die Industrie machte, auf die Medizin übertragen werden kann. Wie beim Bau eines Autos mussten für ein Modell des Herzens zunächst alle Fachleute an einen Tisch gebracht werden: Elektrophysiologen, Gewebemechaniker, Chirurgen, Kardiologen, Regulierungsbehörden, die Medizingeräte-Industrie und so weiter. Das Living-Heart-Projekt begann als Experiment: Könnten wir einen voll funktionsfähigen, virtuellen Zwilling des menschlichen Herzens bauen? Ärzte, Ingenieure und Entwickler sollten
diesen testen – aber nicht isoliert, sondern im Kontext mit allen Disziplinen.

Wie haben Sie die involvierten Parteien überzeugt?

Ich fragte geradeheraus: »Wenn Sie eine künstliche Herzklappe herstellen, wäre es nicht toll, die Klappe in einem menschlichen Herzen zu sehen, bevor sie eingesetzt wird?« Die Antwort war ein klares Ja von allen Seiten. Genau dies ist der Benefit
des virtuellen Zwillings, damit hatten wir alle Beteiligten an Bord.

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Der virtuelle Zwilling des Herzens und weiterer Organe wie Lunge, Leber und Gehirn spiegelt die komplette Funktionsweise und das Zusammenspiel im menschlichen Körper.
© Daussault Systemes

Wie funktioniert das virtuelle Modell aus technischer Sicht?

Der Startpunkt ist die 3D-Geometrie, welche die Natur uns vorgibt. Via Reverse Engineering werden zunächst Bilddaten aus MRT-, CT- und auch Ultraschall-Scans in ein 3D-Modell umgewandelt; heute geht das automatisiert, auch Bewegung darzustellen ist keine Herausforderung mehr. In dieses Modell bringen wir dann die Physik ein, denn das Herz ist im Prinzip eine elektromechanische Pumpe. Wir replizieren also das elektrische System des Herzens, auch die Leitfähigkeit des Gewebes spielt eine Rolle.

Dieses nachgebaute elektrische System wird mit einem Finite-Elemente-Modell des Gewebes gekoppelt; mit Komposit-Werkzeugen modellieren wir die Fasern im Inneren des Herzmuskels. Wir setzen auf die gleiche Technologie, die für den Leichtbau in der Luft- und Raumfahrt verwendet wird. Das Herz ist ein Verbundsystem, und wir nutzen die physischen und elektromechanischen Parameter, wie es sich zusammenzieht oder ausdehnt. Am Ende lassen wir den virtuellen Zwilling einfach laufen.

Wie in der Natur leitet das virtuelle elektrische System, es erregt das Muskelgewebe, das Muskelgewebe kontrahiert und pumpt das Blut, das mit einem Fluiddynamik-Code gekoppelt ist. Das funktioniert erfreulicherweise für alle Menschen gleich gut, wir haben ja alle die gleiche Physiologie; vier Kammern, vier Klappen und so weiter. So entsteht ein Referenzmodell, welches im Nachgang individuell auf Patienten anpassbar ist. Wenn jemand an einem elektrischen Defekt, z. B. Vorhofflimmern, leidet, können wir das in das Modell einbringen.

Wie kommen künstliche Intelligenz und Machine-Learning dabei zum Einsatz?

Vor zehn Jahren war alles noch manuell, heute nutzen wir KI und ML-Algorithmen in verschiedenen Stadien des virtuellen Zwillings. Zum einen kann KI helfen, das eben beschriebene Referenzmodell auf Basis vorhandener Daten weitgehend automatisiert zu erstellen. Zudem ist KI ein sehr wirksames Mittel, individuelle Biomarker abzugleichen und das Herz auf den jeweiligen Patienten abzustimmen.

Medizingeräte-Entwicklern jedoch geht es um eine ganze Bevölkerungsgruppe mit einer bestimmten Krankheit – die Hersteller brauchen eine repräsentative Population für ihre Zielgruppe. KI hilft, solche Populationen aufzubauen und zu simulieren. In der Pädiatrie kann KI das virtuelle Modell auf die Größe eines Kinderherzens verkleinern. Es gibt Hunderte von einstellbaren Parametern, und die KI ist sehr stark darin, die wichtigsten davon für bestimmte Zielgruppen zu identifizieren. So können auch klinische Studien simuliert werden: Wir arbeiten gerade mit der FDA daran, eine virtuelle Population zu erstellen, die eine reale Gruppe einer klinischen Studie für ein Mitralklappen-Gerät widerspiegelt.


  1. Das Herz schlägt virtuell
  2. Wie hilft ein virtueller Zwilling bei der Entwicklung von Medizingeräten?
  3. Wie profitieren Patienten von dem virtuellen Zwilling?

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