MedtecLIVE with T4M

Das System Mensch

15. Mai 2023, 6:30 Uhr | Ute Häußler
© Arthimedes|Shuttertsock

Ganzheitlich digitalisierte Medizintechnik erlaubt einen umfassenden Blick auf Krankheiten und komplexe Wirkungszusammenhänge, sie blickt über den Tellerrand der konventionellenr Diagnose. Die Systemmedizin ebnet dabei den Weg zur Präventivmedizin und individuellen Therapie – ein Status quo.

Wer eine Nierenerkrankung erleidet, konsultiert meist einen Facharzt der Nephrologie. Die Symptome können allerdings auch andere Gründe haben. Während die konventionelle Schulmedizin häufig nur ein Organ betrachtet, weitet die Systemmedizin ihren Blick auf das ganze System Mensch. Sie verknüpft dabei methodische Ansätze der Genom- und Postgenomforschung (Omics-Daten) mit digitalen Analysen.

Dr.-Georg_Münzenrieder von der Bay. Staatsministerium für Gesundheit und Pflege
Dr.-Georg_Münzenrieder von der Bay. Staatsministerium für Gesundheit und Pflege
© Bay. Staatsministerium für Gesundheit und Pflege

Dafür werden Daten aus Genen, Eiweißbausteinen, Stoffwechselprodukten, Lebensweise und Umwelt erfasst und in virtuell angelegten Computermodellen in Zusammenhang gesetzt. Möglich machen dies moderne Technologien wie bildgebenden Verfahren, Sensoren und Computeralgorithmen. »Die Systemmedizin und damit letztendlich auch ein personalisierter Ansatz in der Medizin kann dazu beitragen, die individuell bestmögliche Therapie für einen Patienten zu finden. Ziel ist es, Krankheitsmechanismen besser zu verstehen, um daraus personalisierte Vorbeugungs- und Behandlungsmöglichkeiten abzuleiten«, definiert Dr. Georg Münzenrieder, Referatsleiter im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege.

Die Systemmedizin macht also nichts anderes als ein guter Hausarzt: Er nimmt seinen Patienten ganzheitlich in den Blick, berücksichtigt bei der Diagnostik Historie und Lebenswandel, stellt Zusammenhänge her, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Die Diagnose basiert dann auf Erfahrungswerten und dem Wissen des Mediziners. »Diesen ganzheitlichen Ansatz hebt die Systemmedizin auf ein völlig neues Niveau, weil sie mehr Daten präzise analysieren und in einen Zusammenhang bringen kann als der Mensch. Das ist eines der großen Zukunftsthemen der medizinischen Versorgung in Deutschland und eines der Trendthemen auf der MedtecLIVE with T4M im Mai in Nürnberg«, so Christopher Boss, Leiter der Medizintechnik-Fachmesse bei der NürnbergMesse.

Wie weit ist Deutschland?

Erste Konzepte, um die Systemmedizin in Deutschland zu etablieren, gibt es schon. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert bereits seit 2013 mit dem Forschungsprogramm e:Med und einem Budget von 200 Millionen Euro diesen Ansatz. Mathematiker und Informationswissenschaftler arbeiten bundesweit in vielen Projekten mit Medizinern und Biologen von Universitäten, Forschungseinrichtungen, Kliniken und Unternehmen zusammen. In fünf verschiedenen Modulen analysieren sie Erbgut, Proteine oder Stoffwechselprodukte von Bioproben wie Blut, Urin oder Gewebe. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse dienen mit mathematischen Modellen zu Vorhersagen über Wirkungsweisen von Medikamenten und Therapien.

Welche Erfolge gibt es schon?

»Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen engagiert sich das Ministerium beispielsweise im in München unter wissenschaftlicher Leitung des Deutschen Herzzentrums angesiedelten Leuchtturmprojekt ›DigiMed Bayern‹ für die Medizin der Zukunft, sagt Münzenrieder. Das Projekt sei ein bedeutender Schritt zur Digitalisierung und für eine verbesserte Gesundheitsversorgung im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ziel ist es, Herzerkrankungen wie Atherosklerose durch eine individualisierte Prävention, Diagnose und Therapie zu bekämpfen. Dazu werden umfangreiche Gesundheitsdaten von Patienten mit Atherosklerose gesammelt und analysiert. Zudem wurden wichtige Aktivitäten zur Prävention von Herzinfarkt und Schlaganfall in Gang gesetzt.

Beispiel dafür ist die »Vroni-Studie« des Deutschen Herzzentrums München. Sie dient zur Vorsorge und Früherkennung der »Familiären Hypercholesterinämie« (FH), einer angeborenen Störung des Lipidstoffwechsels, die unbehandelt schon in jungen Jahren schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen hervorrufen kann. Wahrscheinlich tragen über 270.000 Deutsche diesen Gendefekt in sich, allerdings kennt weniger als ein Prozent die Diagnose. In Bayern soll die Vroni-Studie ein flächendeckendes Screening von Kindern zwischen 5 und 14 Jahren zur Frühdiagnose aufbauen. Die Ergebnisse sollen deutschlandweit helfen, die Diagnostik und Therapie für FH-Betroffene jeden Alters zu verbessern.

Bisher wurden 8.100 Kinder getestet, 50.000 sollen es werden. Die Kids können mit einem Tropfen Blut aus der Fingerspitze einfach und schnell an der Studie teilnehmen. Da die Störung des Cholesterinstoffwechsels vererbbar ist, haben auch Blutsverwandte der betroffenen Kinder ein hohes Risiko, Träger des krankhaft veränderten Gens zu sein. »In jeder Familie eines mit FH diagnostizierten Kindes können wir statistisch gesehen drei weitere betroffene Angehörige ermitteln«, erklärt Studienarzt Raphael Schmieder.

Der aktuelle Stand der Entwicklung

Dr.-Ing. Ulrich Jerichow von Vitascale
Dr.-Ing. Ulrich Jerichow von Vitascale.
© Vitascale

»Ein weiteres wichtiges Element, welches sich gerade sehr stark abzeichnet, sind DiGA´s, also Apps mit digitalem Ansatz, die dem Patienten zur Verfügung gestellt werden. Inwieweit das kommerziell erfolgreich wird, ist jedoch noch unklar«, sagt Dr. Ulrich Jerichow, Geschäftsführer von Vitascale, einem Unternehmen für Atemgasanalyse. DiGA steht für digitale Gesundheitsanwendungen, die Patienten bei der Behandlung unterstützen. Neben Gesundheits-Apps für das Smartphone fallen darunter auch browserbasierte Webanwendungen oder Software zur Verwendung auf Desktop-Rechnern. Mit dem Inkrafttreten des DVG (Digitale-Versorgung-Gesetz) Ende 2019 haben gesetzlich Versicherte einen Anspruch auf DiGAs. Voraussetzung dafür sind eine ärztliche Verordnung und eine Genehmigung durch die Krankenkasse. Derzeit können Patienten therapierelevante Daten wie etwa Blutzuckerwerte in Form eines einfachen Datenauszuges für die Ärzte erstellen.

Ab dem Jahr 2023 sollen Versicherte zudem die Möglichkeit erhalten, Daten aus der DiGA in ihre elektronische Patientenakte einzustellen. Fachexperten und Hersteller von Apps und Wearables zum Thema Sensorik stellen ebenfalls auf der MedtecLIVE with T4M aus.

Datengetriebene Diagnostik

Was in DiGAs meist nur punktuell genutzt wird, ist in der Breite die Basis der Systemmedizin: Daten. Verwendet werden zum Beispiel Bilddaten aus CT, MRT, Kontrast-CT-Bildgebung, Laborberichte, Sensorik wie EKG, Langzeit-EKG, Messgeräte. Voraussetzung dafür ist eine Aufklärung durch Ärzte sowie die Zustimmung der Patienten. Für die Forschung werden diese Daten anonymisiert in Forschungsdatenzentren zusammengeführt.

»Datenschutz und Datenaustausch sollten Hand in Hand gehen – hier besteht in Deutschland Verbesserungspotenzial. Andere EU-Länder zeigen, dass es mit der DSGVO auch forschungsfreundlicher geht. Bayern fordert daher den Abbau von datenschutzrechtlichen Hürden für Forschungsvorhaben. Besonders interessant ist hierbei aus unserer Sicht die Ausgestaltung des Europäischen Gesundheitsdatenraums, kurz EHDS, denn er wird uns alle betreffen: Die Regelungen haben das Potenzial, die gemeinwohlorientierte Forschung mit Gesundheitsdaten zu stärken, insbesondere auch für die forschende Industrie«, statuiert Münzenrieder.

Systemmedizin ergänzt die Medizin um den Aspekt der Prävention. Der aktuelle Fokus auf Intervention kann sich somit auf die Gesunderhaltung des Menschen verlagern und so das Gesundheitswesen langfristig deutlich entlasten. »Wir reden eher von Krankenkassen und nicht von Gesundheitskassen und da muss, so denke ich, eine Transformation stattfinden. Menschen, die aktuell denken ›ich gehe zum Arzt, wenn ich krank bin‹, müssen vielleicht eher motiviert zum Arzt gehen, wenn sie noch gesund sind. Dort bekommen sie Möglichkeiten und Wege aufgezeigt, ihren Gesundheitszustand zu erhalten oder zu verbessern, bevor eigentlich ein kritischer Zustand eintritt. Viele Krankheitsbilder wie Diabetes, Übergewicht, Stoffwechselerkrankungen sowie Lungenerkrankungen sind über gut und nachhaltig aufgestellte Präventionsaufnahmen sehr gut messbar und vermeidbar«, erklärt Jerichow und bringt die gewaltigen Chancen der Systemmedizin auf den Punkt


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