Fortschritte in der Krebsforschung

»Die Zelltherapie eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten«

4. Februar 2020, 8:12 Uhr | medical design
3D-Darstellung einer Krebszelle und Lymphozyten
© Fotolia/Christoph Burgstedt

Interview | Schon fast regelmäßig machen »revolutionäre« Durchbrüche in der Krebsforschung Schlagzeilen. Trotz guter Erfolgsaussichten stecken die meisten Verfahren wie die Zelltherapie noch in teuren Kinderschuhen. Wie sich das ändern kann, erklärt Liesbet Lagae vom Imec.

Zur Person
Liesbet Lagae ist Mitbegründerin und Programmdirektorin der Life-Science-Technologien bei Imec (Belgien). In dieser Rolle überwacht sie die aufkommende FuE, öffentlich finanzierte Maßnahmen sowie frühe Unternehmensgründungen. Sie trägt einen Doktortitel der KU Leuven (Belgien) für ihre Arbeit im Bereich Magnetic Random Access Memories. Als junge Gruppenleiterin führte sie den Bereich molekulare und zelluläre Biochips für Siliziumtechnologien bei Imec ein. Zu den Anwendungen gehören medizinische Diagnostik, Point-of-Care-Lösungen, DNA-Sequenzierung, Zytometrie, Bioreaktoren sowie Neuro-Sonden und Implantate. Sie hat ein ERC-Consolidator-Stipendium für die Entwicklung einer Plattform für Einzelzellanalyse und -sortierung erhalten. Sie ist (Co-)Autorin von 125 Peer-Review-Publikationen in internationalen Fachzeitschriften und hält 15 Patente in diesem Bereich.

 

Fakt oder Fiktion: Stehen wir kurz vor einer Revolution in der Krebstherapie?

Liesbet Lagae: In den letzten Jahren waren enorme Fortschritte möglich, insbesondere in der Entwicklung der Immuntherapie. Bei diesen Behandlungen wird das Immunsystem des Patienten angepasst und zur Bekämpfung einer Krankheit genutzt. Im Bereich der Krebsbehandlung verspricht die Immuntherapie die Heilung der Krebsarten, die heute als unheilbar gelten.

Das ist eine starke Aussage. Wie realistisch ist es, dass die Immuntherapie dieses Versprechen einhält?

Ich bin davon überzeugt, dass die Immuntherapie langfristig einen ähnlichen Einfluss auf die Medizin haben kann wie seinerzeit Antibiotika. Das gilt insbesondere für die Zelltherapie, eine besondere Form der Immuntherapie, bei der dem Körper Immunzellen entnommen und nach genetischer Veränderung dem Patienten wieder verabreicht werden.

Weil sich die Methode grundlegend von der traditionellen Medikamentengabe unterscheidet, schafft sie ein Fenster für einzigartige neue Behandlungen. Trotz der zunehmenden Aufmerksamkeit muss man sich dennoch klar vor Augen führen, dass sich der gesamte Bereich noch in der experimentellen Phase befindet. In den allgemeinen Medien und in der Fachliteratur wird zwar umfassend über erfolgreiche Behandlungen berichtet, aber es handelt sich dabei vorerst um wertvolle, punktuelle Erfolge. Global gesehen ist die Zelltherapie bei weitem noch nicht zugänglich.

Warum ist die Zelltherapie noch nicht zugänglich?

Zunächst aufgrund der ihr eigenen Komplexität und der Kosten des gesamten Verfahrens. Zelltherapie erfordert eine Vielzahl von Schritten, die häufig manuell und mit teuren Maschinen auszuführen sind. Und hierbei dürfen keine Fehler oder Kontaminationen auftreten. Das Verfahren von der Blutentnahme bis zur Wiedereinführung der Zellen dauert deshalb derzeit über drei Wochen und kostet zwischen 300.000 und 500.000 Euro pro Behandlung.

Wer soll das bezahlen?

In Belgien haben wir das Glück, dass wir eine progressive Gesundheitsministerin haben. Das  bedeutet, dass einige experimentelle Behandlungen bereits für klinische Anwendungen bereitgestellt werden können. Aber nicht alle Länder sind in derselben Position. Und selbst wenn sie wollten, ist dies aufgrund der damit zusammenhängenden Kosten nicht immer realistisch.

Aber es gibt ja noch andere Möglichkeiten für die Finanzierung …

… Die meisten Gelder für die Krebsforschung stammen aus spezifischen, häufig privaten, Krebsfonds. Und diese konzentrieren sich auf das gesamte Wohlbefinden des Patienten, sprich die Finanzierung von Forschung ist nur ein Teil davon. Und im Gegensatz zu dem, was die Leute möglicherweise denken, sind die verfügbaren öffentlichen Mittel neben diesen Fonds verhältnismäßig begrenzt. Und private Investoren kennen sich mit diesem Bereich immer noch nicht genügend aus. Der Bereich weist zwar ein hohes Investitionsrisiko auf, aber deshalb auch potenziell hohe Renditen.

Das alles hört sich doch etwas trostlos an. Warum glauben Sie dennoch an einen positiven Ausgang?

2017 ließ die amerikanische Food and Drugs Administration (FDA) erstmals Zelltherapie zu, genauer gesagt für die Behandlung von Leukämie bei Kindern und jungen Erwachsenen. Dies führte zu einem enormen Vertrauensschub bei allen, die in diesem Bereich aktiv sind, und zog auch die Aufmerksamkeit der Industrie auf sich. Vor noch fünf Jahren war die Zelltherapie ausschließliche Domäne kleiner Start-ups oder akademischer Gruppen, ohne die Pharma-Industrie an Bord. Heute ist auf einmal das Interesse der Pharma-Industrie vorhanden. In den letzten Jahren waren alleine bei mir über 15 große Pharma-Unternehmen zu Besuch, um unsere Forschungseinrichtungen zu besichtigen.

Was hat sich geändert?

Die Unternehmen verstehen die Notwendigkeit, das Verfahren der Zelltherapie effizient und zuverlässig zu entwickeln, damit es in größerem Maßstab eingesetzt werden kann. Und hier liegt die entscheidende Rolle der Technologie. Man könnte sagen, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert des technologischen und elektronischen Fortschritts »an sich« war. Wenn ich bedenke, was alleine zwischen 2000 und heute passiert ist, wage ich zu behaupten, dass im 21. Jahrhundert Technologie und Life Sciences miteinander verschmelzen werden.

Was stimmt Sie da so zuversichtlich?

Dank der umfassenden Miniaturisierung der Chip-Technologie und der Möglichkeiten, neue Materialien und komplexe Komponenten zu integrieren, sind bereits zahlreiche medizinische Verfahren und Geräte deutlich zugänglicher geworden. Denken Sie nur an Chips für die DNA-Analyse, die nicht-invasive Pränataldiagnostik (NIPD), die hier seit ein paar Jahren schon fast zum Standard geworden ist, und so weiter. Ich habe vor kurzem einen Artikel gelesen, dass das Universitätskrankenhaus Leuven erfolgreich den NIPD-Test verwendet hat, um bestimmte Formen von Blutkrebs bei schwangeren Frauen zu entdecken. Dieselben Chip-Technologien können verwendet werden, um Zelltherapie zuverlässiger und effizienter zu gestalten.

Und alle diese Faktoren weisen einen Synergieeffekt auf. Je deutlicher die Erfolge und Möglichkeiten und je reifer die Chip-Technologie, umso größer das Interesse und die verfügbaren Ressourcen seitens der Industrie. Je größer das Interesse und die Ressourcen seitens der Industrie, umso größer das Vertrauen des Gesetzgebers und umso schneller der Fortschritt in der technologischen Forschung und Entwicklung.

Wie fügen Sie und Imec sich in dieses Bild ein?

Unser jüngster Fortschritt war das Ergebnis des europäischen Jet Cell-Programms, das 2019 ausgelaufen ist und vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanziert wurde. Wir erzielten wichtige Durchbrüche bei einem automatischen Zellsortierchip. Wir konnten beweisen, dass der Chip schnell, zuverlässig und akkurat die korrekten Immunzellen aus einer Blutprobe isolieren kann, sodass sie danach für die gewünschte Therapie modifiziert werden können. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Kosten der Zelltherapie zu senken, weil ein solcher Chip deutlich günstiger ist als die derzeit verwendeten Geräte. Mit diesem Chip vermeiden wir auch manuelle Eingriffe und die damit zusammenhängende Vorlaufzeit sowie das Risiko von Fehlern und Kontamination.

Schlagworte: Onkologie, Krebsbehandlung, Immuntherapie, Zelltherapie, Chip-Technologie, Imec

Liesbet Lagae: »Die Zelltherapie unterscheidet sich grundlegend von der traditionellen Medikamentengabe.«
Liesbet Lagae: »Die Zelltherapie unterscheidet sich grundlegend von der traditionellen Medikamentengabe.«
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