Additive Fertigung

Exoskelett mit Bauteilen aus dem 3D-Drucker

1. Oktober 2020, 13:50 Uhr | Igus
Nach einem Schlaganfall haben viele Patienten kaum Kraft in den Fingern. Das Exoskelett unterstützt sie dabei, wieder zugreifen zu können.
© ETH Zürich/S. Schneller

Fingerglieder aus Hochleistungskunststoff sorgen für optimale Kraftübertragung

Alle zwei Minuten erleidet ein Mensch in Deutschland einen Schlaganfall, so die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft. Dafür meist verantwortlich: ein Gefäßverschluss oder eine Blutung im Gehirn. Oft entstehen halbseitige Lähmungen oder Bewegungsstörungen. Um diese Folgen in den Griff zu bekommen, trainieren Physiotherapeuten mit Patienten Bewegungen des Alltags – etwa das Greifen einer Tasse Kaffee. Das ist oft mühevoll und frustrierend, wissen auch Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ). Sie entwickeln deshalb ein Hand-Exoskelett namens »RELab tenoexo«. Es besteht aus drei Komponenten: einem Handmodul, einem Rucksack und einem Sensorarmband. 

Exoskelett deckt 80 Prozent der täglichen Aktivitäten ab

Der Patient zieht das Armband an, fixiert das Handmodul mit Lederriemen an den Fingern und setzt den Rucksack auf, in dem sich Motoren, Batterien, ein Minicomputer und Steuerelektronik befinden. Setzt der Patient die Hand zu einer Bewegung an, leitet das Armband elektromyografische (EMG) Signale an den Computer weiter. Der Rechner erkennt anhand dieser Daten, dass der Mensch eine Greifbewegung beabsichtigt. 
 

Fotos

Aufbau des Systems: Der batteriebetriebene Motor im Rucksack bewegt die Finger des Exoskeletts über einen Bowdenzug. Für die bestmögliche Kraftübertragung sorgen 3D-gedruckte Fingerglieder aus Hochleistungskunststoff von Igus.
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Das Sensorarmband schickt Muskelsignale an den Computer im Rucksack. Er erkennt, dass der Patient eine Bewegung beabsichtigt und unterstützt ihn mit entsprechenden Kräften
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Teile auseinandergebauter Finger. Sie bestehen aus drei übereinander gelegten Blattfedern, zusammengehalten durch Fingerglieder aus robustem und reibungsarmem Hochleistungskunststoff (weiß).
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Um ihm dabei mehr Kraft zu geben, kommen DC-Motoren zum Einsatz. Sie strecken und beugen die Blattfedern der Exoskelett-Finger mit Bowdenzügen – das sind Seilzüge, die auch Kräfte in der Gangschaltung eines Fahrrads übertragen. »Pro Finger bringt das Exoskelett eine Kraft von sechs Newton auf«, sagt Jan Dittli, Forscher am ETHZ-Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie. Die drei implementierten Griffe würden ausreichen, um Objekte bis ca. 500 Gramm zu heben – wie zum Beispiel eine 0,5-Liter-Wasserflasche. Das Exoskelett, das bislang in Pilotprojekten in der Rehabilitation zum Einsatz kommt, könnte also in Zukunft ein Alltagsbegleiter werden.

Klassischer 3D-Drucker stößt an Grenzen 

Ein Prototyp kommt nicht über Nacht. Die Forscher haben einen langen Weg zurückgelegt. Dabei behilflich war ihnen Jumpei Arata. Der japanische Professor von der Kyushu University hat das Fingerdesign entwickelt. Dafür hat er drei dünne Blattfedern aus rostfreiem Stahl übereinandergelegt und über vier Kunststoffglieder verbunden. Der Bowdenzug ist an der mittleren Feder befestigt. Bewegt der Patient die mittlere Feder nach vorne, schließen sich die Finger, zieht er sie zurück, öffnet sich die Hand. 

Die Blattfedern herzustellen war vergleichsweise einfach. Schwieriger hingegen: Die Herstellung der Fingergelenke. Für die Produktion von Kunststoffbauteilen kommt in der ETHZ ein 3D-Drucker zum Einsatz. Er arbeitet mit dem sogenannten Fused Deposed Modelling (FDM) Verfahren, bei dem Arcylnitril-Butadien-Styrol (ABS) aus der Druckdüse fließt. Für den Handrücken des Exoskeletts hat der 3D-Druck funktioniert. Doch bei den Fingergelenken? Da ist der Drucker an seine Grenzen gestoßen. Zum einen war die Auflösung des Geräts nicht hoch genug, um die Struktur der Fingerglieder zu realisieren. Das Element hält nicht nur die Blattfedern zusammen, sondern verfügt auch über einen filigranen Schließmechanismus für den Lederriemen. Die Schnalle, in die der Riemen eingefädelt ist, ist kaum breiter als ein Millimeter. Zum anderen war ABS als Druckmaterial ungeeignet. »Die Reibung zwischen den Gelenken und den Blattfedern wäre bei diesem Material zu hoch gewesen. Dadurch wäre uns bei der Bewegung der Finger zu viel Energie verlorengegangen«, erklärt Dittli.

3D-Druckservice fertigt Fingergelenke aus Hochleistungskunststoff 

Die Forscher haben sich deshalb auf die Suche nach einer Alternative gemacht. Fündig wurden sie bei der Igus GmbH, Köln. Das Unternehmen entwickelt Jahrzehnten Bauteile aus Hochleistungskunststoff für die Industrie und bietet seit 2014 auch einen 3D-Druckservice an. In den Werkhallen des Unternehmens stehen High-End-3D-Drucker, die das Selektive Lasersintern (SLS) beherrschen. Dabei breitet ein Beschichter eine hauchdünne Pulverschicht auf einer Bauplattform aus. Ein Laser verschmilzt das Pulver an den Stellen, die dem digitalen Bauplan in der Computer-Aided-Design (CAD) Datei entsprechen. Anschließend senkt sich die Bauplattform um eine Schichtstärke ab und der Prozess beginnt von vorn. Schicht für Schicht entstehen die Fingerglieder. »Die Genauigkeit ist dabei hoch genug, um die filigrane Struktur des Gelenks problemlos zu realisieren«, erklärt Tom Krause, Leiter Additive Fertigung bei Igus. 

Anders als beim FDM-Druck sind beim Lasersintern keine Stützstrukturen notwendig. Diese Funktion übernimmt das lose Pulver, das nicht aufgeschmolzen ist. Und der Verzicht auf Stützstrukturen bedeutet weniger Nacharbeit; die Fingergelenke lassen sich direkt einsetzen. Und auch das Problem der Materialfindung konnte das Kölner Unternehmen lösen. Es hat für das Lasersintern eigens zwei Werkstoffe entwickelt: iglidur I6 und iglidur I3 sind tribologisch optimierte Kunststoffe und wurden speziell für bewegte Anwendungen entwickelt. So liegt die Verschleißfestigkeit bei iglidur I3 bis zu 30 Mal höher im Vergleich zu regulären SLS Material. iglidur I6 zeichnet sich ebenfalls neben der hohen Verschleißfestigkeit zudem durch hohe Zähigkeit aus. 

Im hauseigenen Testlabor konnte in Versuchen mit 3D-gedruckten Schneckenrädern bislang kein anderer Kunststoff die Lebensdauer von iglidur I6 schlagen. Der Kunststoff ist beispielsweise robuster als klassisches Polyoxymetylen (POM). Um das zu beweisen, haben Ingenieure Zahnräder mit 12 Upm laufen lassen und mit 5 Nm belastet. Ein gefrästes Zahnrad aus POM war nach 321.000 Umdrehungen verschlissen und nach 621.000 gebrochen. Das 3D-gedruckte Zahnrad aus iglidur I6 war hingegen auch nach einer Million Umdrehungen noch voll funktionstüchtig. Die Abnutzung war kaum messbar.

Handmodul wiegt nur 148 Gramm 

Durch die geringe Reibung des Hochleistungskunststoffs geht beim Beugen der Finger weniger Kraft verloren. Gleichzeitig ist der Werkstoff trotz seiner Robustheit leicht. Ein wichtiger Vorteil für die Forscher, die bei der Entwicklung des Exoskeletts Gewicht sparen möchten. Das Handmodul bringt nur 148 Gramm auf die Waage, der Rucksack lediglich 720 Gramm. »Viele Exoskelette, die in der Rehabilitation zum Einsatz kommen, sind derzeit nicht tragbar. Unsere Lösung hingegen ist leicht und kompakt genug, um sich auch im Alltag zu bewähren und kann somit den Therapiebereich erweitern«, sagt Dittli. 

Dabei lässt sie sich an Patienten anpassen – wie ein Maßanzug. »Wir haben einen Algorithmus entwickelt, um das digitale Modell des Exoskeletts mit wenigen Klicks an die Handgröße des Patienten anzupassen«, so Dittli. Anschließend schicken die Forscher das digitale Modell in einer STEP-Datei zu Igus. Innerhalb weniger Stunden fertigt der 3D-Drucker die Fingergelenke. Keine Selbstverständlichkeit. »Klassische Fertigungstechnologien wie der Spritzguss stoßen bei der Herstellung von Unikaten oder niedriger Auflagen an die Grenzen der Wirtschaftlichkeit«, sagt Krause. Aufgrund der zeitaufwendigen Herstellung von Gussformen rentiere sich der Spritzguss in der Regel erst bei Großserien. Zudem genießen Konstrukteure beim 3D-Druck eine hohe Designfreiheit. Anders als bei klassischen Verfahren wie dem Drehen oder Fräsen spielt die Komplexität der Geometrie keine Rolle. 

Exoskelett mit Gedanken steuern

RELab tenoexo befindet sich derzeit in der Testphase. Die Forscher haben das Exoskelett mit fünf Patienten in einer Schweizer Reha-Klinik getestet. »Die meisten Testpersonen waren begeistert, da sie mithilfe des Exoskeletts schnelle Ergebnisse erzielt haben«, sagt Dittli. Und was bringt die Zukunft? Das Exoskelett könnte auf das Sensorarmband verzichten und stattdessen die Aktivität von Hirnregionen messen. Es könnte sich dann mit Gedanken steuern lassen. Das sei allerdings noch Zukunftsmusik.

Links

Mehr zum 3D-Druckservice von Igus erfahren Sie hier

Einen weiteren Igus-Beitrag zum Thema »Energieketten und Gleitlager für die Medizintechnik« finden Sie hier


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