Neuropixels-Messsonden

Geistesblitzen auf der Spur

5. Dezember 2019, 13:00 Uhr | Andy Thé und Vijay Iyer
Gedankenfeuerwerk: Jeder Funktionsbereich im Gehirn umfasst etwa 10.000 Neuronen, die Impulse senden und empfangen.
© Fotolia/psdesign

Fachbeitrag | Mit neuen Sonden könnten Wissenschaftler ein viel klareres Bild davon geben, wie die Teile des Gehirns zusammenarbeiten, um Informationen zu verarbeiten. Die Herausforderung: Je mehr sie erfahren, desto weniger Schlüsse können sie tatsächlich ziehen.

Wenn ein Neuron einen Impuls sendet, wird die entstehende Veränderung eines elektrischen Potenzials als Aktionspotenzial oder Nervenimpuls (Spike) bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein kurzes Ereignis, das ungefähr eine Millisekunde dauert. Der Spike breitet sich nicht nur vorwärts an andere Neuronen aus, sondern auch rückwärts durch die eingehenden Verästelungen des Neurons. Daher erzeugen Nervenimpulse, die aus den einzelnen Neuronen stammen, ein jeweils einzigartiges Muster aus Ablenkungen elektrischer Felder, die sich entlang der unterschiedlichen Kanäle einer elektrischen Messsonde ausbreiten (Bild 1, Bildergalerie). Durch Spike Sorting können Neurowissenschaftler die elektrische Signatur von Nervenimpulsen identifizieren, die von einzelnen Neuronen ausgehen. Daraus können sie die Zeitpunkte dieser Impulse sowie deren Ursprung ableiten und damit das Feuerverhalten einzelner beziehungsweise weniger Neurone ermitteln.

Jahrzehntelang konnten Wissenschaftler die Hirnaktivität nur mithilfe der optischen Bildgebung aufzeichnen. Diese Techniken melden Nervenimpulse indirekt, indem sie eine Erhöhung der Kalziumionen-Konzentration messen, die auftritt, wenn Neuronen feuern. Sie haben jedoch wesentliche Einschränkungen: Sie können weder tiefe Bereiche des Gehirns erreichen noch der zeitlichen Präzision der Aufzeichnungen neurologischer Messsonden gleichkommen, die im Millisekundenbereich liegt.

Fotos

mathworks
© MathWorks
mathworks
© Bild: Mit freundlicher Genehmigung von M. Barbic, HHMI Janelia.
mathworks
© MathWorks

Alle Bilder anzeigen (4)

Da ein einziger Funktionsbereich des Gehirns im Allgemeinen jedoch über 10.000 Neuronen umfasst, boten diese Aufzeichnungen nur einen winzigen Einblick in die Aktivitäten der lokalen neuronalen Systeme. Moderne Siliziumsonden, sogenannte Neuropixels-Messsonden, hingegen zeichnen gleichzeitig die Aktivität von Hunderten von Neuronen auf (Bild 2). Erste Pilotexperimente sind vielversprechend, stellen die Wissenschaftler jedoch vor eine neue Herausforderung: die Verwaltung von Datenmengen, die fast 100-mal so groß sind wie bisher – in einer Größenordnung von 100 Gigabyte für ein einziges Experiment.

Neuropixels-Sonden sind elektrophysiologischen Sonden ähnlich, die Neurowissenschaftler seit Jahrzehnten verwenden, um extrazelluläre elektrische Aktivität in den Gehirnen lebender Tiere nachzuweisen. Aber sie beinhalten zwei entscheidende Fortschritte: Die neuen Sonden sind ungefähr so lang wie ein Mäusegehirn, passieren und sammeln gleichzeitig Daten aus vielen verschiedenen Gehirnregionen. Und die Aufnahmeelektroden sind entlang ihrer Länge dicht gepackt, was es den Forschern leichter macht, die zellulären Quellen der Gehirnaktivität zu bestimmen. Schließlich verfügt jede der neuen Sonden über ein nahezu vollständiges Aufzeichnungssystem, wodurch Hardwaregröße und -kosten reduziert werden und Hunderte von Ausgangsdrähten entfallen [1].

Minuten statt Wochen

Einer der frühen Anwender, der Neurowissenschaftler Dr. Marius Pachitariu vom Univeristy College London (UCL), erkannte, dass für den Umgang mit diesen großen Datenmengen zwei wichtige Fortschritte notwendig sind: eine stärkere Automatisierung und die Beschleunigung mit GPUs. Pachitariu und seine Kollegen entwickelten daraufhin den auf Matlab basierenden Sortieralgorithmus »Kilosort«, der die Verarbeitung gegenüber früheren Ansätzen um den Faktor 25 beschleunigte.

Im nächsten Schritt setzt er handelsübliche Nvidia-GPUs ein, um wichtige Schritte wie die Signalvorverarbeitung und die Merkmalsextraktion zu beschleunigen. Auf einer einzelnen Workstation erreichte er mithilfe der GPU eine weitere Beschleunigung um etwa einen Faktor 40. Insgesamt verringerte sein Prototyp die Verarbeitungszeit für 50 GB (30 Minuten aufgezeichneter Daten von Silizium-Messsonden) von zwei Wochen auf nur 20 Minuten. Dank dieser höheren Analysegeschwindigkeit konnten Pachitariu und sein Team innerhalb von Stunden Experimente durchführen, Ergebnisse analysieren, Parameter anpassen, Experimente erneut durchführen und erneut Ergebnisse erzeugen, statt zwischen den einzelnen Iterationen wochenlang warten zu müssen.

Als die Anzahl der Aufzeichnungspunkte dank der Neuropixels-Messsonde von einigen wenigen auf Hunderte anstieg, zeigte sich mehr und mehr, dass manuelle Methoden nicht länger praktikabel sind. Pachitariu und sein Team benötigten eine effektivere Spike-Sorting-Methode, die ein Clustering für Tausende von Daten durchführen konnte. Dabei verfolgte er drei Ideen:

  • Entwicklung von Algorithmen, die Nvidia-GPUs nutzen
  • Vereinfachung von Algorithmen, um mögliche systematische Fehler zu vermeiden
  • Minimierung der Anzahl von Entwurfsiterationen

Die Wissenschaflter konnte mehrere GPU-Operationen in Matlab implementieren. Dazu verwendete sie »gpuArray«, ein High-Level-Konstrukt in der Parallel Computing Toolbox. Kilosort erforderte zusätzliche benutzerdefinierte GPU-Operationen. Diese implementierten die Forscher mithilfe benutzerdefinierter CUDA-Kernels und riefen sie direkt aus dem Programm auf.

Es geht noch schneller

Kilosort wurde entwickelt, um elektrophysiologische Aufzeichnungen zu verarbeiten, die in vivo von Hunderten von Elektrodenkanälen erfasst werden, meist mit einer Abtastrate von 25 kHz. Ein einzelnes Aktionspotenzial (Nervenimpuls) zeigt sich dabei als gleichzeitige Signale auf mehreren Elektroden. Eine Möglichkeit, diese Daten zu visualisieren, besteht darin, die Kanäle im Zeitverlauf darzustellen. Dabei stellt jede Ablenkung im Diagramm Signalspitzen dar, die aus dem Aktionspotenzial eines Neurons entstehen (Bild 3).

Zunächst führt der Algorithmus eine Vorverarbeitung der aufgezeichneten Daten mithilfe eines Hochpass-Butterworth-Filters durch. Danach wird ein iterativer Clustering-Algorithmus angewendet, der wiederholt einen zweischrittigen Prozess durchführt: Zunächst identifiziert er ein Muster von Signalformen und sucht anschließend nach Instanzen dieser Muster in den Rohdaten (Bild 4). Der zweite Teil der Schleife – in dem ermittelt wird, zu welchen Zeitpunkten jedes identifizierbare Signalmuster in den Daten auftritt – wird auf einer Nvidia-GPU mit 3584 Kernen durchgeführt. Dabei werden benutzerdefinierte CUDA-Kernels verwendet, die in Matlab integriert sind. Der Algorithmus optimiert seine Vorlagen so lange, bis die ursprünglich aufgezeichnete Datenmenge genau rekonstruiert werden kann, indem diese einzelnen Signalmuster zu den erkannten Nervenimpuls-Zeitpunkten zusammengefügt werden. Mit Kilosort kann der Anwender darüber hinaus falsch-positive Ergebnisse entfernen.

Zukünftige Entwicklungen

Neuropixels-Messsonden sind noch relativ jung, erst im vergangenen Jahr wurden sie auf der Jahreskonferenz der Society for Neuroscience vorgestellt. Doch schon jetzt übersteigt die Nachfrage durch Forscher das Angebot. Neurowissenschaftler weltweit werden in Kürze beginnen, die Funktion vieler unterschiedlicher neuronaler Netze mithilfe elektrophysiologischer Messungen in diesem nie zuvor möglichen Umfang abzubilden. Um ihre umfangreichen Datenmengen zu analysieren, könnten sie Kilosort nutzen.

Dr. Pachitariu und seine Mitarbeiter arbeiten zurzeit an einem Algorithmus für eine automatisierte Driftkorrektur. Diese soll die Genauigkeit erhöhen, wenn der Proband einer Tätigkeit wie etwa dem Laufen nachgeht, bei der sich die Messsonde meist bewegt. Auch dieser neue Algorithmus ist GPU-beschleunigt. Er löst sequenziell Tausende kleiner Clustering-Probleme für jeden zweisekündigen Datenbatch, um zu ermitteln, in welcher Tiefe der Batch aufgezeichnet wurde. Eine genaue Driftkorrektur ist laut Aussagen der Forscher der nächste wesentliche Schritt in Richtung eines vollständig automatisierten Spike Sortings.

Quelle

[1] Neue Siliziumsonden zeichnen gleichzeitig die Aktivität von Hunderten von Neuronen auf; https://medicine-consultant.com/new-silicon-probes-record-activity-hundreds-neurons-simultaneously-15254 (Stand: August 2019)

Autoren: Andy Thé und Vijay Iyer, beide MathWorks

Schlagworte: Neuronen, Gehirn, Spike-Sorting, Matlab, Elektrosonden, Med. Informatik

Zuerst gesehen: Dieser Beiträg erschien in einer längeren Version zuerst in der Medizin+elektronik Nr. 5 vom 6.September 2019.

 


Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!