Modell Based Systems Engineering

Komplexe Medizinsysteme entwerfen

23. Mai 2023, 5:30 Uhr | Matthias Günther und Dr.-Ing. Harald Anacker, Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik
Bild 1. Die Medizinbranche benötigt neue Entwicklungsansätze, um innovative Lösungen zu finden und die zunehmende Vernetzung von Systemen in Smart-Health-Umge- bungen erfolgreich umzusetzen.
© metamorworks | stock.adobe.com

Regulatorisch, soziotechnisch und klinisch: für die Digitalisierung brauchen Medizingeräte leistungsfähige Entwicklungsansätze - insbesondere für die Telemedizin, Roboterchirurgie oder vernetzte Smart-Health-Umgebungen. Systems Engineering ist in der MedTech-Praxis bereits erfolgreich.

Unternehmen der Medizintechnik stehen vor einer doppelten Herausforderung: Ihre Produkte sollen die bestmögliche Behandlung unterstützen und sie sollen gleichzeitig die Leistung und Effizienz der Produkte und Abläufe verbessern. Dabei treibt die Integration neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) die Medizinbranche voran (Bild 1). Einige der wichtigsten technologischen Innovationen im medizinischen Bereich sind künstliche Intelligenz (KI) und Big Data, neue Sensortechnik und Wearables, das Internet der Dinge (IoT), 3D-Druck für individuelle Komponenten und Körperteile oder auch erweiterte (AR) und virtuelle Realität (VR).

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Die Digitalisierung der Medizinbranche

Die Digitalisierung gilt als Enabler neuartiger und produktivitätssteigernder Lösungen und bietet zahlreiche neue Möglichkeiten die Medizinbranche zu unterstützen, gar zu revolutionieren. Prominente Beispiele sind die Telemedizin, Roboterchirurgie oder auch KI-Anwendungen, bei denen auf Basis von großen Datensätzen beispielsweise Diagnosen vorgeschlagen werden. Auch bei etablierten Konzepten und Geräten, wie Dialysemaschinen, lassen sich Behandlungsmöglichkeiten durch weitere Informationsquellen verbessern oder erweitern. Ein Beispiel hierfür ist das Verknüpfen von Behandlungsinformationen aus anderen Anwendungen, um die optimale Einstellung des Dialysegerätes zu finden.

 Realisierung von neuen Anwendungs-möglichkeiten, wie zum Beispiel die Telemedizin, durch die Vernetzung von Medizin- und Informationsgeräten in Smart-Health-Umgebungen
Bild 2. Realisierung von neuen Anwendungs-möglichkeiten, wie zum Beispiel die Telemedizin, durch die Vernetzung von Medizin- und Informationsgeräten in Smart-Health-Umgebungen.
© Fraunhofer IEM/William Neufeld

Ein anderes Beispiel ist die Echtzeitbeobachtung kritischer Vitalparameter von Patientinnen und Patienten durch das Fachpersonal – das in Notsituation unmittelbar reagieren kann (Bild 2). All dies ist durch die Digitalisierung möglich – und die Grenze der Leistungsfähigkeit in der Medizintechnik ist noch lange nicht erreicht.

Fakt ist: Möglich ist viel. Allerdings stehen die vielfältigen technologischen Potenziale in der Medizintechnik aktuell noch im Kontrast zur Realität: Die meisten Kliniken und Praxen setzen noch auf eher konservative Lösungen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Entwickler und Entwicklerinnen von Medizingeräten häufig auf etabliertes Vorgehen setzen, um die hohen regulatorischen Hürden zu erfüllen. Auch die langen Lebenszyklen und die langwierigen Freigabeprozesse zählen zu den Gründen. Ein Wandel ist dennoch unverkennbar: Der wachsende Kostendruck und die notwendige Verkürzung der Time-to-Market treiben die Unternehmen, neue Wege zu gehen.

Mit Systems Engineering Komplexität beherrschen

Ein Ansatz, mit dem die genannten Herausforderungen adressiert werden können, ist das Systems Engineering (SE). Ziel des SE ist es, ein Entwicklungsprojekt ganzheitlich, das heißt mit all seinen Facetten über den gesamten Lebenszyklus zu betrachten, dabei die Aufgaben im Engineering in seine Teile zu zerlegen und zu lösen. Im Gegensatz zu den häufig in Unternehmen vorkommenden entkoppelten Entwicklungsbereichen, werden alle Disziplinen mit einbezogen. Das SE berücksichtigt alle Aktivitäten zur erfolgreichen Entwicklung komplexer Systeme und setzt auf ein ganzheitliches Projektmanagement, um zielorientiert die optimale Lösung zu finden. Das interdisziplinäre Arbeiten wird koordiniert und mithilfe einer einheitlichen Sprache abgestimmt. Systems Engineering ermöglicht die Einbindung und Vernetzung weiterer Disziplinen, wie z. B. Biologie und Fluidtechnik, die insbesondere bei der Entwicklung von Medizingeräten die Physiologie des Menschen berücksichtigen müssen. Je höher die Anzahl der Stakeholder in der Entwicklung ist, desto komplexer wird diese Aufgabe.

Systemmodell als Brücke

In diesem Zusammenhang bietet die Arbeit mit Modellen große Mehrwerte. Im Engineering werden bereits seit vielen Jahren physikalische Modelle genutzt, um komplexe Sachverhalte zu entwickeln, zu simulieren und zu testen. In den einzelnen Disziplinen werden dazu gezielt Modelle eingesetzt, die seit Langem beim Lösen von komplexen Problemen unterstützen. Dazu zählen CAD-Modelle, Schaltpläne oder UML-Diagramme aus der Softwaretechnik, aber auch Simulationsmodelle aus der Fluidtechnik. Verschiedene Ziele werden durch die Nutzung von Modellen adressiert. Was fehlt, ist ein Modell, welches all diese Informationen verknüpft und die Erkenntnisse zusammensetzt.

Bei der multidisziplinären Entwicklung von Systemen im sogenannten Modell Based Systems Engineering (MBSE) spielt das Systemmodell eine zentrale Rolle. Es ermöglicht eine interdisziplinäre Betrachtung des Systems und fungiert als informative Brücke zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen, wie Mechanik, Elektrik/Elektronik, Softwaretechnik oder auch Fluidtechnik. Die Tätigkeiten der Produktentwicklung werden zielgerichtet durch eine ganzheitliche und eindeutige Beschreibung sämtlicher Entwicklungsobjekte im Systemmodell unterstützt. Michael Bitzer von Fresenius Medical Care bestätigt dies: »Ein durchgängiges Informationsmodell versetzt uns in die Lage, sowohl die Transparenz in der Entwicklung zu erhöhen als auch unsere Produkte nachhaltiger über den gesamten Lebenszyklus zu betreuen.«

Das Systemmodell wird durch den Dreiklang aus Sprache, Methode und Tool erstellt. Als Sprache hat sich die SysML als De-facto-Standard branchenübergreifend etabliert. Diese bietet die Möglichkeit, über bestimmte Erweiterungsmechanismen spezifische Sprachelemente (Profile) zu ergänzen, die beispielsweise in der Medizintechnik benötigt werden. So können Details über Behandlungsabläufe oder auch die Zusammenhänge zu anderen Systemen im Kontext des Gerätes präzise beschrieben werden. Nicht zuletzt lassen sich komplexe Umgebungen, wie die eingangs erwähnte Smart-Hospital-Umgebung, begreifen und die notwendigen Maßnahmen für die Entwicklung ableiten.

Architekturentwicklung im Zig-Zagging

Benötigt wird zusätzlich eine Methode mit deren Vorgehen ein Systemmodell sukzessive aufgebaut wird. Als grober Rahmen hilft es, die Problemstellung des Entwicklungsprojekts aus vier verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Auf Basis der gestellten Anforderungen (Anforderungsbeschreibung) wird eine optimale Lösung gesucht. Zunächst sollte lösungsunabhängig die Funktionalität des Systems entwickelt werden (funktionale Beschreibung).

Vier Perspektiven, das Systemmodell zu beschreiben
Bild 3. Vier Perspektiven, das Systemmodell zu beschreiben.
© Fraunhofer IEM

Anschließend werden passende Lösungsprinzipien (logische Beschreibung) und die konkreten technischen Umsetzungen (technische Beschreibung) festgelegt. Dies erfolgt im sogenannten Zig-Zagging zwischen den Anforderungen und der Architekturentwicklung und typischerweise weiteren Disziplinen, wie Produktkosten, Varianten- und Plattformmanagement. Die Zusammenhänge zwischen den Perspektiven werden im Systemmodell festgehalten und durch Verknüpfungen hinterlegt (Bild 3).

Die verknüpften Daten im Systemmodell bieten zahlreiche Vorteile. Ein Beispiel ist die Impact-Analyse, in der die Auswirkungen einer Änderung in dem Systemmodell auf sämtliche verknüpfte Elemente überprüft werden können. Auch die Erstellung von Dokumenten aus den Informationen des Systemmodells, die zum Beispiel für die Freigabe von technischen Geräten benötigt werden, sind ein spannender Anwendungsfall für Unternehmen in der Medizinbranche.

Ableitung von nachweispflichtigen Dokumenten aus dem Systemmodell
Bild 4: Ableitung von nachweispflichtigen Dokumenten aus dem Systemmodell.
© Fraunhofer IEM

Hierzu werden die relevanten Elemente durch Tags gekennzeichnet und können automatisiert ausgeleitet werden (Bild 4). Sie stellen den zu dem Zeitpunkt aktuellen Stand dar und sind nachvollziehbar miteinander in Beziehung gesetzt. Werden die Daten im Systemmodell zusätzlich mit einem Produktdaten- oder Produktlebenszyklus-Managementtool (PDM/PLM-Tool) gekoppelt, lassen sich zahlreiche Business-Prozesse über den gesamten Lebenszyklus von Systemen unterstützen.

Klar definierte Schnittstellen als Erfolgsfaktor

Auch in Unternehmen, die eine breite Produktpalette anbieten, ist das MBSE ein Schlüssel zum Erfolg. Im Verbundprojekt MoSyS untersucht das Fraunhofer IEM gemeinsam mit Philips und weiteren Forschungs- und Industriepartnern, wie Systemreferenzarchitekturen erfolgreich in Unternehmen aufgebaut und genutzt werden können. Diese sollten Synergieeffekte über sämtliche Entwicklungsbereiche erzeugen, wenn sie im gesamten Unternehmen bekannt und zugänglich gemacht werden. So lässt sich ein einheitlich entwickeltes Konnektivitätsmodul zum Beispiel über sämtliche Produkte in einem Anwendungsbereich nutzen – und verhindert, dass drei Entwicklungsbereiche zeitgleich an einem Übertragungsmodul für Behandlungsdaten arbeiten. Wesentlich für den Erfolg sind klar definierte Schnittstellen, die im Systemmodell festgehalten werden.

Das Konzept des MBSE lässt sich beliebig erweitern: Es entstehen zahlreiche Anwendungsfälle, um Produkte und Prozesse in der Medizintechnik-Entwicklung zu verbessern. Uwe Hoffmann von Philips unterstreicht, »Systems Engineering ist bei Philips Standard. MBSE wird als ein Schlüssel für die Zukunft gesehen.«

Wohin geht die Reise? In Zukunft binden Entwicklerinnen und Entwickler vielleicht zielgerichtet Betriebsdaten von Medizingeräten in einen Digital Twin ein. Oder sie analysieren Nachhaltigkeitsfragen über den gesamten Lebenszyklus bereits in der Designphase. Schon heute wird deutlich: MBSE ist ein erfolgreicher Ansatz für die Herausforderungen unserer Zeit. (uh)


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