Materialforschung am Leibniz-Institut

Lebende Materialien für die Medizin

7. März 2023, 15:05 Uhr | Von Dr. Shrikrishnan Sankaran & Christine Hartmann
© Adobe Stock

Mikroorganismen wie Bakterien, Pilze oder Algen reagieren auf physikalische Signale wie Licht, Wärme und Druck oder chemische Signale wie Nährstoffe, Toxine und den pH-Wert. Die Trigger lassen die Mikroben komplexe chemische Verbindungen synthetisieren, um zu überleben.

Materialforscher wollen diese Fähigkeit nutzen und kontrollieren – etwa um mit hochsensitiven Biosensoren individualisierte Medikamente direkt am Krankheitsherd zu produzieren.

Diese spezielle Materialforschung bewegt sich an der Schnittstelle zur synthetischen Biologie. Gentechnische Verfahren machen es dabei möglich, die Reaktionsmechanismen der Organismen zielgerichtet umzuprogrammieren. In vielen Anwendungsszenarien stößt der Einsatz der Mikroorganismen aber an seine Grenzen. Ungeschützt neigen sie dazu, nicht an einem Ort zu bleiben und mit anderen Mikroorganismen zu interagieren. Die Lösung sind sogenannte Engineered Living Materials (ELMs), ein speziell designtes Material, bei dem die lebenden Organismen in nicht lebende Materialien eingeschlossen sind und dennoch ihre Funktion behalten.

Engineered Living Materials boomen

Die Forschung an den ELMs ist noch relativ jung, aber schon fest etabliert. Aus den Pionieren des letzten Jahrzehnts ist eine rasant wachsende internationale und interdisziplinäre Community geworden. Förderprogramme unterstützen die Arbeit der Forschungsgruppen und Start-ups transportieren das Wissen in Anwendungen. In Sektoren wie der Bau- oder Textilindustrie haben sich die ELMs bereits bewährt. Einen besonderen Boom erlebt aktuell die Forschung an ELMs im medizinisch-pharmazeutischen Umfeld, wo sie Living Therapeutic Materials (LTMs) genannt werden (Bild 1). LTM-Biosensoren in Form von Pads, Wearables oder sogar Tattoos bzw. auch Implantate, die bei Entzündungen, chronischen Infektionen oder Krebs an den Patienten angepasst Wirkstoffe in den Körper abgeben, stehen auf dem Wunschzettel der Forschenden und der Industrie.

Leibniz Lebende Materialien Medizintechnik Forschung Mikroorganismen
Bild 1: Living Therapeutic Materials aus dem 3D-Drucker.
© INM

Maßgeschneidert, lang­lebig und kostengünstig

Sind solche lebende Implantate im menschlichen Körper an der richtigen Stelle positioniert, können sie dort für lange Zeit ihre Arbeit verrichten. Zum einen werden sie vor Ort mit körpereigenen Nährstoffen versorgt, zum anderen schützt ihre nicht lebende Hülle sie vor dem Immunsystem. Verwendet man Organismen, die im Körper natürlich vorkommen, lässt sich der Heilungseffekt maximieren. So werden beispielsweise probiotische Laktobazillen, die in fermentierten Lebensmitteln wie Joghurt oder Käse vorkommen, aber auch Bestandteil der Darmflora sind, zur Behandlung entzündlicher Darm­erkrankungen verwendet. Gemeinsam ist allen LTMs, dass sowohl die lebenden als auch die nicht lebenden Komponenten kostengünstig herzustellen sind und verschiedenste Materialien miteinander kombiniert werden können. Das macht auch die Produktion einfach: Techniken wie 3D-Druck, Mikroverkapselung, Formgebung, Beschichtung oder Elektrospinning kommen zum Einsatz, um maßgeschneiderte Formate zu erhalten.

Core-Shell-Verkapselung

Forschenden am INM – Leibniz-Institut für Neue Materialien ist es gelungen, LTMs in Form von dünnen Fasern, Mikrokapseln und Membranen herzustellen, die antimikrobielle und regenerative Substanzen produzieren und freisetzen. Werden diese Materialien in den menschlichen Körper implantiert, können Arzt oder Patient die im Trägermaterial eingeschlossenen Mikroorganismen über Licht, Wärme oder chemische Stimulanzien steuern und etwa die von den Organismen produzierten medizinischen Wirkstoffe dosieren.

Bei der Forschung an den lebenden Materialien ist deren sicherer Einsatz wichtig. Bevor genetisch programmierte Organismen in den menschlichen Körper gelangen, muss sichergestellt sein, dass sie keine Möglichkeit haben, aus ihrer Umhüllung auszubrechen und ihre Gene an Körperzellen weiterzugeben. Daher werden die LTMs im Core-Shell-Prinzip aufgebaut (Bild 2): Die gentechnisch veränderten Mikroorganismen werden in ein Kernmaterial eingeschlossen, das ihr Wachstum und ihre Funktionalität begünstigt. Diesen Kern umhüllt dann eine robuste Schale, die zwar die im Kern produzierten Wirkstoffe nach außen und Nährstoffe nach innen durchlässt, den Mikroorganismen selbst den Weg aber versperrt. Zudem werden die lebenden Organismen mit einem »Notschalter« versehen. Der Not-Mechanismus würde Organismen, welche die Hülle durchdringen, sofort abtöten.

Leibniz Lebende Materialien Medizintechnik Forschung Mikroorganismen
Bild 2. Gedruckte Core-Shell-Faser mit medikamentenproduzierenden Bakterien.
© INM

Die Gewährleistung der Sicherheit der LTMs, insbesondere eine mögliche Interaktion mit menschlichen Zellen, ist von grundlegender Bedeutung in der Forschung und wird künftig noch stärker in den Fokus rücken. Als nächster Schritt sind Versuche an tierischem Gewebe und Mäusen geplant, die Aufschluss über die Anwendung unter physiologischen Bedingungen geben sollen. Die Forschenden rechnen mit raschen Fortschritten und gehen davon aus, dass LTMs bereits in den nächsten Jahren im Menschen zum Einsatz kommen. (uh)

 

Das Leibniz-Institut für Neue Materialien
Das INM – Leibniz-Institut für Neue Materialien in Saarbrücken erforscht und entwickelt neuartige und optimierte Materialien für den Menschen und seine direkte Umgebung. Rund 100 Forschende untersuchen grundlegende Phänomene an Grenzflächen und Oberflächen, ahmen biologische Prinzipien nach und suchen nachhaltige Ansätze für das Materialdesign. Die Ergebnisse setzt das INM in innovative Lösungen um, von druckbarer Elektronik für die digitale Welt über programmierbare Implantate für die Biomedizin und genaueste Diagnoseverfahren für die Krebstherapie bis zu leistungsfähigen Speichermaterialien für die Energiewende. Im Saarbrücker Leibniz Wissenschaftscampus »Living Therapeutic Materials« kooperiert das INM mit den medizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universität des Saarlandes und dem Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland.

 


Lesen Sie mehr zum Thema


Das könnte Sie auch interessieren

Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!

Weitere Artikel zu Leibniz-Institut für Neue Materialien GmbH

Weitere Artikel zu Medizinelektronik