Additive Fertigung

Mehr als nur Prototyping

20. Juli 2022, 9:34 Uhr | Lukas Pawelczyk, Arburg
Aus dem Original-Kunststoff Vestakeep i2 G von Evonik entstehen im AKF-Verfahren unter anderem individualisierte Schädel-Implantate samt Stützmaterial.
© Arburg

In der Medizintechnik sind bereits additiv gefertigte Funktionsbauteile im Einsatz. Wichtig dabei ist ein reproduzierbares und prozesssicheres AM-Verfahren. Der Maschinenbauer Arburg zeigt mithilfe neuer Fertigungsmethoden und Digitalisierung den Weg.

Für den Praxiseinsatz von patientenspezifischen Implantaten im Körper muss jedes einzelne Bauteil lückenlos dokumentiert und rückverfolgbar sein. Der Hersteller von Maschinen für die Kunststoffverarbeitung Arburg bietet für das Additive Manufacturing von Funktions­bauteilen neue Fertigungsmethoden und Synergien von Maschinentechnik mit Automatisierung und Digitalisierung.

Die reinraumgeeignete Additiv-Maschine Freeformer kann im patentierten Verfahren Arburg Kunststoff-Freiformen (AKF) bis zu drei Komponenten verarbeiten und macht so die industrielle additive Fertigung komplexer Funktionsbauteile in belastbarer Hart-Weich-Verbindung mit Stützstruktur möglich (Bild 1).

Im Rahmen der Digitalisierung aller Fertigungsprozesse wird die Freeformer-Maschine über ein IIoT-Gateway vernetzt und in das Digitalportal arburgXworld integriert. Anwender können Prozess- und Bauauftragsdaten über die App »ProcessLog« einsehen, dokumentieren oder grafisch anzeigen. Neben den regulatorischen Anforderungen sorgt diese Transparenz für eine hohe Teilequalität und kann Ausschuss und Fehlerquoten in der Fertigung deutlich reduzieren.

Medizintechnik Kunststofftechnik Maschinenbau Freeformer Arburg 3D Additive Fertigung Maschinen Spritzguss
Bild 1. Der Freeformer fertigt aus qualifizierten Originalkunststoffen und Stützmaterial additiv komplexe und belastbare Funktionsbauteile. Die Maschine eignet sich auch für den Einsatz im Reinraum.
© Arburg

Praxisanwendung Peek-Implantate

Auf der Messe Formnext 2021 hat ein Freeformer erstmals das originale Peek-Kunststoffgranulat »Vestakeep i4 G« von Evonik zu Patienten-angepassten Schädelknochen-Implantaten verarbeitet (Bild 2). Weitere Beispiele für medizinische Peek-Bauteile waren ein Wirbelsäulen-Cage, ein dickwandiger Wirbelkörper sowie eine Bohr- und Sägeschablone. Das zugehörige Stützmaterial entstand aus dem gleichen Material in »Break-away«-Struktur. Evonik hat in Zugversuchen gezeigt, dass sich bei der Verarbeitung des Materials in x- und y-Richtung Festigkeiten von bis zu 95 Prozent erzielen lassen. Aktuell werden die Werte in z-Richtung weiter optimiert. Zudem werden weitere Peek-Materialien wie der technische Werkstoff »Victrex 450g« für das AKF-Verfahren getestet, die ersten Ergebnisse erscheinen vielversprechend. Die additiv gefertigten Bauteile können durch Post Processing wie Gleitschleifen (Trovalieren) eine Oberflächenqualität erreichen, die mit denen von Spritzgussteilen vergleichbar sind.

Soll sich die Additive Fertigung als neuer Produktionsstandard etablieren, braucht es – gerade in sicherheitskritischen und regulierten Bereichen wie der Medizintechnik – zuverlässige und prozesssichere End-to-end-Lösungen für den Dauerein­satz, insbesondere auch für die Verarbeitung von Hochtemperatur-Kunststoffgranulaten.
Der Baumraum des Arburg-Modells »Freeformer 300-3X« kann beispielsweise bis 200 Grad Celsius beheizt werden. Um temperaturempfindliche Maschinenkomponenten, wie etwa die Achsantriebe, die den Bauteilträger hochpräzise auf 0,022 mm genau in x-, y- und z-Richtung positionieren, zu schonen, wird das System über ein Temperaturmanagement kontinuierlich gekühlt.

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Bild 2. Ein Freeformer in Hochtemperaturausführung kann medizinisch zugelassenes Original-Peek wie Vestakeep i4 G von Evonik zu individualisierten Schädelimplantaten samt Stützmaterial verarbeiten.
© Arburg

Keine zusätzliche Zertifizierung

Das Materialspektrum für das AKF-Verfahren umfasst auch Kunststoffe auf Basis von Polyetherimid (PEI) wie das für die Luft- und Raumfahrt zugelassene flammhemmende Ultem 9085 (PEI/PC-Blend). Das bereits erwähnte Vestakeep i4 G wiederum ist ein für dauerhaft implantierbare Medizinprodukte zugelassenes Originalmaterial. Das bedeutet: Für die additive Verarbeitung ist somit keine zusätzliche Zertifizierung erforderlich. Im Falle des Schädelimplantats erhielt das gefertigte Bauteil ein Etikett mit QR-Code. Über
diesen zeigt das Kundenportal die zugehörigen Prozessdaten.

Dokumentierte Prozessqualität

In der ProcessLog-App sind alle relevanten Daten zum jeweiligen Bauauftrag des Freeformers zu finden. Dies ermöglicht eine lückenlose Dokumentation der Prozessdaten und -qualität und somit eine teilespezifische Überwachung und Rückverfolgung (Bild 3). Nach Fertigstellung des Bauteils kann der Anwender über die App detaillierte Informationen etwa zu Slicing-Parametern, Materialverbrauch und anderen relevanten Prozessparametern wie Austragsrate, Massedruck, Schneckenposition und Tropfenfrequenz einsehen und auswerten. Die Daten lassen sich wie bei einem Smartphone skalieren und übersichtlich grafisch darstellen.

Der eigentliche Bauauftrag lässt sich von der Maschinensteuerung über einen Datenträger an einen PC übertragen. Daten können im PDF- und CSV-Format oder als QR-Code exportiert und zu Dokumentationszwecken ausgedruckt werden. Die Standardangaben enthalten Informationen zur verwendeten Freeformer-Maschine, den Materialien, Auftragsstart und -ende, Bauzeit sowie Material- und Bauraumtemperatur. Darüber hinaus können zu jedem Bauteil über einen direkt aufgebrachten QR-Code oder über ein ausgedrucktes Etikett individuell angepasste Informationen hinzugefügt werden. Das können bei einem Implantat z. B. Angaben zum Patienten sein oder bei einem technischen Funktionsbauteil weitere relevante Daten, etwa für welchen Kunden es gefertigt wurde.

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Bild 3. Mit der eigens für den Freeformer entwickelten Kundenportal-App »ProcessLog« lassen sich für jeden Bauauftrag vielfältige Prozess- und Bauauftragsdaten übersichtlich darstellen. Dies ermöglicht eine lückenlose teilespezifische Überwachung.
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Industrie 4.0 für MedTech

Hat ein OEM mehrere Maschinen für die additive Fertigung im Einsatz, stellt die App »MachineCenter« alle Freeformer übersichtlich und transparent dar. Zu jeder Maschine sind Dokumente wie Materialprofile, Slicing und andere Softwarepakete, Musterbauteile und Materialdatenblätter abrufbar. Zusätzlich sind Betriebs- und Wartungsanleitungen sowie Aufstellpläne hinterlegt. Über eine Anbindung zum Arburg-Shop lassen sich Verbrauchsmaterialien wie Düsenspitzen und Bauplatten bestellen. Im Ersatzteilkatalog sind außerdem zu allen Baugruppen Explosionszeichnungen hinterlegt, die grafisch zur Materialnummer des benötigten Einzelteils führen.

Die digitale Vernetzung hilft auch im Falle von Störungen oder wenn Know-how und Unterstützung von Experten gefragt ist: Für schnelle Hilfe via Telefon- oder Online-Support können sich Mitarbeitende des Maschinenbauers per Remote-Service über eine sichere Datenverbindung direkt auf die Steuerung der Maschine schalten. Der Maschinenbediener gibt den VPN-Zugang auf dem Bedienerpanel aktiv frei. Der Kundenservice muss so nicht zwangsläufig vor Ort erscheinen und kann mit dem firmeneigenen Wissen schnell zur Analyse und Optimierung der Prozesse beim OEM beitragen.

Additiver Mehrwert für die Medizintechnik

Durch die digitale Einbindung der Freeformer-Maschine in sein Kundenportal macht der Maschinenbauer Arburg Additive Manufacturing transparent. Die App »ProcessLog« kann zur lückenlosen Dokumentation und Rückverfolgung der additiv gefertigten Funktionsbauteile beitragen. In Zusammenhang mit neuen Methoden zur Fertigung komplexer Funktionsbauteile in belastbarer Hart-Weich-Verbindung mit Stützstruktur und den medizintechnischen Praxisbeispielen wird deutlich, dass Additive Manufacturing schon heute und auch in der Medtech-Branche deutlich mehr leisten kann als reines Proto­typing. Im AKF-Verfahren kann vielmehr die komplette Prozesskette der industri­ellen additiven Fertigung abgebildet werden. Die Kombination aus Digitalisierung, Entwicklung und Fertigung im Maschinenbau sowie Kunststoffverarbeitung kann gerade für die streng regulierte und überwachte Medizintechnik neue Poten­ziale wecken. (uh)

Patent für industrielle additive Fertigung
Das Arburg Kunststoff-Freiformen (AKF) beginnt – ähnlich wie beim Spritzgießen – mit dem Aufschmelzen von Kunststoffgranulat über einen beheizten Plastifizierzylinder. Dann trägt ein hochfrequent getakteter, starrer Düsenverschluss kleinste Tropfen aus. Der über drei Achsen bewegliche Bauteilträger wird dabei in x-, y- und z-Richtung auf 0,022 Millimeter genau auf die vorher berechnete Stelle positioniert. Die einzelnen Tropfen verbinden sich mit dem umliegenden Material, sodass Schicht für Schicht dreidimensionale Bauteile entstehen. Durch eine angepasste Prozessführung erreicht das offene AKF-Verfahren materialabhängig Bauteildichten sowie Zugfestigkeiten, die nahezu denen von spritzgegossenen Teilen entsprechen. Die Austragsmenge und Schichtdicke werden bestimmt vom eingestellten Tropfenvolumen, der Frequenz und dem Düsendurchmesser.

 


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