Medizintechnik-Fertigung

Meniskus-Prothese per AM

10. November 2022, 13:44 Uhr | Boris Scheffknecht, Samaplast
Bild 1: CT und Multifunktionsmessmaschine bei Samaplast.
© Samaplast

Additive Manufacturing (AM) für die Medizintechnik ist bereits in zahlreichen kunststoffverarbeitenden Betrieben implementiert. Mithilfe von AM und Computer Tomographie (CT) kann die Herstellungskette signifikant optimiert werden, wie ein Anwendungsfall für eine Meniskusprothese zeigt.

Das Resultat gleich vornweg: Auf Basis eines risikobasierten Ansatzes mit Additive Manufacturing und Computertomographie (Bild 1) konnte die Fertigung von Medizinprodukten und sogar Langzeitimplantaten optimiert, komplettiert und finalisiert werden. Und das von der ersten Idee bis zum steril verpackten Medizinprodukt auf Basis des gewünschten Verwendungszwecks. Risikobasiert meint, dass Unsicherheiten in den Herstellprozessen identifiziert und Kontrollen innerhalb der entsprechenden Prozesse angewendet werden, beispielsweise durch die Design-of-Experiment-Technik (DoE). So können potenziell negative Auswirkungen auf den Prozess und das Produkt minimiert, die positiven hingegen maximiert werden.

Der Prozessablauf

Der Prozess und seine Stationen werden in diesem Fachbeitrag am Fallbeispiel des Kunststoffherstellers Samaplast für dessen Kunden Atro Medical erläutert und illustriert. In der Zusammenarbeit wurde eine Meniskusprothese zur Herstellungs- bzw. Marktreife gebracht.

Trammpolin-Meniskusprothese – Prototyp und Medizinprodukt
Bild 2. Trammpolin-Meniskusprothese – Prototyp und Medizinprodukt.
© Samaplast

Die Meniskusprothese (Bild 2) wurde von Atro Medical speziell für Patienten entwickelt, die nach einer Meniskusentfernung unter anhaltenden Knieschmerzen leiden. Das Projekt befindet sich derzeit im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. Bei der Anwendung übernimmt die Prothese die stossdämpfende Funktion des Meniskus und verhindert so den Knorpelabbau. Die Prothese sorgt außerdem für eine gleichmäßige Belastungsverteilung auf das Kniegelenk. Chronische Knieschmerzen können so gelindert werden. Die Folgen sind besserer Schlaf, wieder normales Gehen und schmerzfreies Arbeiten.

Meniskusprothese

Die Prothese ist aus Polycarbonat-Urethan (PCU) gefertigt, einem Material, das seit einiger Zeit in der Medizin und in der Implantologie verwendet wird. Es ist nicht biologisch abbaubar, das bedeutet, dass es zukünftig auch für Herzimplantate verwendet werden kann. Durch die Kombination zweier PCU-Typen mit verschiedenen Shore-Härtegraden in einem Meniskus konnte Atro Medical eine flexible und solide Lösung schaffen, um die Lebensqualität von Patienten zu verbessern.

Die Grundlage für einen reibungslosen Produktionsprozess und ein funktionierendes Medizinprodukt sind die Umsetzung der Designvorgaben und die Erfüllung aller Vorgaben in der Herstellung. Dies funktioniert mit einem lückenlosen Designtransfer und durch die Abstimmung der Design- auf die Prozessrisiken. Eine Prozess-FMEA (Failure Mode and Effects Analysis) muss durch den Kunden und den Lieferanten über die gesamte Herstellungskette umgesetzt sowie die risikomindernden Maßnahmen in das Design und den Prozess implementiert werden.

Schritt Eins: Designidee

Zunächst musste die Designidee festgelegt werden, parallel dazu musste die Umsetzung garantiert sein. Dabei stellten sich mehrere Herausforderungen: Das neue Medizinprodukt, das aus zwei Komponenten – PCU mit verschiedenen Shore-Härten – bestehen sollte, musste produktionstechnischen und normativen Spezifikationen entsprechen. Zweitens muss der Verwendungszweck immer erfüllt bleiben. Drittens war die Schnittstelle zwischen den beiden Komponenten zu gewährleisten.

AM mit Arburg Freeformer im ISO-8-Reinraum (im Betrieb) bei Samaplast
Bild 3. AM mit Arburg Freeformer im ISO-8-Reinraum (im Betrieb) bei Samaplast.
© Samaplast

In einem ersten Schritt wurden zahlreiche Prototypen mit unterschiedlichen Designvariationen im Additive Manufacturing (AM) unter kontrollierten Reinraumbedingungen – ISO 7 und 8 in Operation nach EN ISO 14644 – und mit Originalmaterial hergestellt (Bild 3). Diese reichten vom 2K-Zugversuchstab über verschiedenste Prototypen für kritische Bauteilgeometrien bis hin zum endgültigen Produktdesign. Anschließend erfolgten die Verifizierung und die Prüfung auf Festigkeit. Als Kontrollmethoden bieten sich in dieser Phase ein optischer oder ein CT-Soll-Ist-Vergleich bzw. ein Schichthaftungstest an. Dabei soll der Soll-Ist-Vergleich den Nachweis der Einhaltung der Spezifikation gewährleisten. Der Schichthaftungstest »Layer Adhesion Test« misst die Festigkeit an den Verbindungstellen der beiden Bauteile mit verschiedenen Shore-Härten.

Schritt Zwei: Kleinstserien

Im zweiten Schritt erfolgte die Herstellung diverser Kleinstserien. Mithilfe von Prototypen-Werkzeugen aus Stahl wurden diese aus Originalmaterial unter produktionsechten Bedingungen hergestellt. Die Voraussetzung: die Erfüllung aller Anforderungen bzgl. Spezifikation und Reinheit. Solche Anforderungen können Rückstandsfreiheit oder Biokompatibilität sein. Denn nur bei hundertprozentiger Entsprechung dürfen solche Prototypen für erste klinische Studien eingesetzt werden.

Um ein Testen am Originalmaterial schnell zu ermöglichen, müssen Prototypen aus gehärteten Stahlwerkzeugen in wenigen Tagen hergestellt sein. Damit können Projektlaufzeit und -kosten spürbar verringert werden.

Schritt Drei: Serienherstellung

Das finales Projektziel war die Serienherstellung der Implantate. Diese Fertigung hat unter validen Herstellungsbedingungen und kontrollierten Umgebungsbedingungen im ISO-7-Reinraum (in Operation) im Spritzgiessverfahren zu erfolgen. Inkludiert in der Fertigung sind die notwendigen Nachfolgeprozesse bis hin zur sterilen Endverpackung.
Was in den obigen drei Schritten exemplarisch beschrieben wurde, konnte in der Praxis erfolgreich umgesetzt werden. Nachfolgend wird das Produkt jetzt optimiert, um die Erkenntnisse der Erstimplantationen zu integrieren. Durch diese kontinuierliche Weiterentwicklung erhöht sich die Patientensicherheit, außerdem kann der Erfolg der medizinischen Anwendung maximiert werden. Auch in dieser Phase wird die bewährte Prozesskette des Additive Manufacturing über die Herstellung von Werkzeugen für Prototypen für Kleinstserien hin zum Spritzgießprozess angewendet.

Erfolgsfaktoren

Um den Prozesserfolg zu gewährleisten, müssen zahlreiche Faktoren notwendig erfüllt sein. Zum einen ist modernstes technisches Equipment unabdingbar. Dazu zählen u. a. qualifizierte 3D-Drucker, z. B der Arburg Freeformer, Reinräume uvm. Zum anderen müssen die Rahmenbedingungen der einzelnen Fertigungsabschnitte erfüllt sein, damit der Designtransfer zum nächsten Verfahrensschritt funktioniert und die Prozessschnittstellen nicht zu Stolpersteinen werden:

■ Zertifizierung nach Stand der Technik (ISO/ASTM 52920 bzw. DIN SPEC 17071)

■ Risikobasierter Ansatz: kritische Einflussgrößen, Medizinprodukteherstellung,   Schnittstellen zu verschiedenen Herstellungsverfahren im Designtransfer

■ Qualifizierte Reinräume und Maschinen

■ Material- und Prozess-Know-how

■ Prozessvalidierung und Materialqualifizierung

■ Material: Haftung/Ablösung, Biokompatibilität

■ Flexibilität bei der Konstruktion der Bauteile

Spannende Zukunft

Additive Manufacturing hilft zum einen beim Festlegen und Bestätigen der Designidee entscheidend und minimiert so auch nicht kalkulierte Risiken für den Patienten, die im Zuge der Designfindungsphase gar nicht im Fokus standen. Zum anderen kann es für die Herstellung von Medizinprodukten bzw. Implantaten eingesetzt werden. Weiter gibt es Bestrebungen, das bestehende validierte additive Verfahren für die Medizinprodukteherstellung auszubauen und neue Geometriemöglichkeiten für Kleinstserien bis hin zu Losgröße 1 auszuschöpfen. Damit wird die Kombination vom Prototypen-Projekt hin zu OEM-Projekten für Kunden möglich.

Zudem wird versucht, AM-Verfahren mit dem Einsatz der CT-Verfahren in die Herstellungskette zu kombinieren, damit keimarm produzierte Medizinprodukte, z. B individuell gefertigte Kundenprodukte, in deren Verpackung verifiziert und anschließend sterilisiert werden können. Im Zuge der Prüfung werden so Querkontaminationen ausgeschlossen und die Erfüllung aller Regularien garantiert

Möglichkeiten des Additive Manufacturing

Nach Auswertung aller Ergebnisse aus dem Fallbeispiel der Meniskusprothese leitet Samaplast die folgenden Empfehlungen für die Projektplanung und -umsetzung ab:

■ Für aussagekräftige Versuche sind nur kleinste Materialmengen notwendig. Das bedeutet eine große Kosteneinsparung beim Projektstart. Außerdem lässt sich die Herstellung in sehr kurzer Zeit bewerkstelligen.

■ Materialversuche mit verschiedensten Compounds auf Testbasis helfen bei der Materialwahl. Diese sind kostengünstig möglich und bringen Flexibilität.

■ Additive Manufacturing (AM) kann als Wareneingangsprüfung von High-End-Materialen einfach und kostengünstig eingesetzt werden.
 ■ Die Erkenntnisse aus der Wareneingangsprüfung können bei der Entwicklung bzw. Festlegung der Materialspezifikation und Prozessoptimierung von Neumaterialien helfen. Der Lieferant des Ausgangsmaterials und der Kunde stehen hier in einer partnerschaftlichen Beziehung.

■ Geometrieversuche sind ohne teure Anpassungen der Spritzgießwerkzeuge möglich. Designoptimierungen sind daher in der Projektphase einfach möglich.

■ 2K-Bauteile sind einfach und kostengünstig herstellbar.

■ Auch Vorrichtungen wie Montage- sowie Prüfvorrichtungen oder Instrumente sind schnell und kostengünstig aus biokompatiblem Material herstellbar.
■ Additive Manufacturing (AM) ist gut kombinierbar mit Folgeprozessen wie Spritzguss.

 


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