Fertigung

Produktentwicklung: Sieben auf einen Streich

25. November 2020, 13:22 Uhr | Bittium
Bei der Entwicklung von Medizingeräten kommt es auf mehrere Faktoren an
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Bittium identifiziert die wichtigsten Herausforderungen beim Design medizinischer Geräte

Der Markt für Medizintechnik hat sich als integraler Bestandteil der Gesundheitsindustrie etabliert, da fortschrittliche Medizingerätetechnologien greifbare Vorteile bieten. Sie legen den Grundstein für neue Dienstleistungen wie eine beispielsweise die Möglichkeit, Vitalparameter von Patienten einfacher und dauerhafter zu überwachen, was kürzere Genesungszeiten unterstützt. Die Zukunft des Marktes für medizinische Geräte, sowohl für den klinischen als auch für den Bereich Home Care, sieht sehr vielversprechend aus. Marktprognosen erwarten, dass er bis 2025 ein geschätztes Volumen von 432,6 Milliarden Dollar erreichen wird[1]. 

Dank des Fortschritts in Wissenschaft und Technologie haben die Hersteller von medizinischen Geräten heute mehr Möglichkeiten denn je. Gleichzeitig stehen sie aber auch vor neuen Herausforderungen. Von steigenden Materialkosten bis hin zu Fragen der Qualitätskontrolle, einem wachsenden Wettbewerb und der Notwendigkeit einer beschleunigten Markteinführung sowie neuen Compliance-Anforderungen gibt es eine Reihe von Faktoren, die diese Unternehmen beachten müssen. 

Zentrale Herausforderungen

Die neuen EU-Verordnungen für medizinische Geräte treten am 26. Mai 2021 vollständig in Kraft [2]. Laut diesen Vorschriften müssen Hersteller von Geräten mit medizintechnischen Funktionen eine Reihe strenger Anforderungen erfüllen, um ihre Produkte zertifizieren zu lassen. Viele Medienberichte konzentrieren sich momentan auf den Trend mobil vernetzter Geräte. Die neuen Verordnungen machen es jedoch notwendig, auch einen Blick auf die grundlegenderen Herausforderungen zu werfen, die Bereiche wie Materialeinsatz, mechanische Konstruktion, Sicherheitsanforderungen oder Support über die gesamte Lebensdauer eines Geräts betreffen.

Nehmen wir als Beispiel ein typisches mobiles Gerät, das Vitalparameter eines Patienten, wie Körpertemperatur, Blutdruck, EKG, Sauerstoffsättigung oder Atemfrequenz über Sensoren überwacht. Bei der Entwicklung eines solchen Geräts sind dies typische Herausforderungen, die es zu berücksichtigen gilt:

Thermische Steuerung

Medizinische Geräte unterliegen strengen Sicherheitsstandards und Anwendungsrichtlinien für thermische Bedingungen. Die Oberflächentemperatur für medizinische Geräte wird durch die Norm IEC60601-1 geregelt. Für Geräte, die die Haut eines Patienten berühren, bedeutet dies, dass die Oberflächentemperatur des Geräts unter einem bestimmten Wert bleiben muss, der von der genauen Anwendung des Geräts abhängt. Thermische Simulationen sind ein integraler Bestandteil des Designprozesses. Sie können zum Beispiel helfen, Hotspots zu identifizieren. In diesem Fall lässt sich die Konstruktion des Geräts anpassen, um die Wärme gleichmäßiger zu verteilen. Alternativ können Materialien für bestimmte Komponenten ausgetauscht werden.

Im heutigen Wettkampf um eine schnelle Markteinführung, um der Konkurrenz zuvorzukommen, bieten fortschrittliche Simulationsmöglichkeiten einen beträchtlichen Vorteil, da sie bereits in einem frühen Entwicklungsstadium virtuell und ohne die Notwendigkeit von Prototypen durchgeführt werden können. Auf diese Weise ist es möglich, innerhalb eines kurzen Zeitrahmens verschiedene Materialien und Konstruktionsanordnungen auszuprobieren, um zu sehen, wie sie die Oberflächentemperaturen beeinflussen.

Auswahl der Materialien 

Die Materialauswahl gehört typischerweise zu den ersten Schritten bei der Konstruktion eines Geräts. Medizintechnische Geräte erfordern häufig die Verwendung von nicht allergenen Materialien, die sehr widerstandsfähig sind und eine hohe Beständigkeit gegenüber häufiger Reinigung oder dem Kontakt mit Chemikalien aufweisen. Darüber hinaus muss das Material für die Übertragung von Hochfrequenzsignalen (HF-Signalen) möglicherweise HF-transparent sein. Die einfachste Lösung, um sicherzustellen, dass die Materialauswahl alle Compliance-Anforderungen erfüllt, ist die Verwendung von Materialien, die für den medizinischen Gebrauch vorzertifiziert sind. Die Zusammenarbeit mit einem R&D-Team, das über eine umfassende Materialdatenbank sowie über die oben beschriebenen Simulationsmöglichkeiten verfügt, kann den Materialauswahlprozess erheblich vereinfachen und beschleunigen.

Mechanische Belastbarkeit

Die lange Lebensdauer vieler medizinischer Geräte stellt eine Herausforderung für ihre mechanische Belastbarkeit dar. Probleme, die durch die Qualität der Mechanik (das Design und/oder den Herstellungsprozess) verursacht werden, können unerwünschte Belastungen verursachen. In Verbindung mit Chemikalienkontakt im täglichen Gebrauch führt das häufig zu Brüchen oder Frakturen am Gerät. Ein sorgfältig durchdachtes Design, kompetente Hersteller und gründliche Tests können dies verhindern. Neben der optischen Attraktivität des Designs sind im medizinischen Bereich besonders die Qualitätssicherung und -beurteilung von entscheidender Bedeutung.

Schutz vor elektrischer Gefährdung 

Zugängliche Teile des Geräts müssen gemäß der Norm IEC60601-1 gegen Kriechstrom geschützt werden. Die Norm enthält spezielle Merkmale für medizintechnische Geräte, die sich stark von den Vorgaben für Konsumgüter unterscheidet. Wenn während des Design-Prozesses ein Risiko von Ableitstrom festgestellt wird, müssen zugängliche leitende Teile der Hardware ausgetauscht oder mit zusätzlichen Komponenten gesichert werden, um dies zu verhindern. Darüber hinaus benötigen medizinische Geräte eine Messfunktion für den Kriechstrom und einen Kontrollmechanismus, sodass sich das Gerät automatisch abschaltet, wenn Ableitstrom auftritt oder bestimmte Grenzwerte überschreitet.

Industrielle und mechanische Designlösungen

Sehr spezifisch für medizinische Geräte ist die Vorgabe, dass sie leicht zu reinigen sein müssen, ohne dass Rückstände verbleiben. Die Geräte werden in der Regel für mehrere Patienten eingesetzt. Eine gründliche Reinigung zwischen einem Patientenwechsel ist erforderlich. Ein wichtiger Punkt ist es daher, dass die Geräte bestimmte IP-Klassifizierungen erfüllen. Wasserfestigkeit ist dabei besonders wichtig, da die Geräte beispielsweise mit antibakteriellen Flüssigkeiten gereinigt werden. Zu den Voraussetzungen für eine einfache Reinigung gehört auch ein Design ohne schwer zugängliche Ecken und Spalten, in denen sich Rückstände ansammeln könnten. 

Weitere Bereiche des mechanischen Konstruktionsprozesses können durch den Einsatz von FEM-Berechnungen (Finite-Elemente-Methode), Falltestsimulationen, Eindringschutz- und Lichtleitersimulationen erleichtert werden. Wenn diese Bereiche in einem frühen Stadium des Designprozesses einbezogen und durch Simulationen zum Nachweis des Designs unterstützt werden, wird das gewünschte Qualitätsniveau schneller erreicht, was wiederum den Weg für Kosteneinsparungen und eine schnellere Markteinführung ebnet.

Fehlermöglichkeiten und Auswirkungen 

Medizinische Geräte müssen für den Anwender auch unter »Einzelfehlerbedingungen« (Single Fault Conditions - SFC) sicher bleiben, wie in der IEC60601-1 festgelegt. Das bedeutet, dass im Falle des Auftretens einer einzelnen anormalen äußeren Bedingung oder des Versagens eines einzelnen Schutzmittels gegen eine Gefahr kein Sicherheitsrisiko entstehen darf. Situationen hierfür sind zum Beispiel die Unterbrechung des Schutzleiters oder eines Versorgungsleiters, das Auftreten einer externen Spannung an einem Anwendungsteil sowie das Versagen der Basisisolierung oder von Temperaturbegrenzungseinrichtungen. Aufgrund der strengen Vorschriften ist die Durchführung einer »Fehler-Möglichkeits- und Einfluss-Analyse« (FMEA) ein wesentlicher Bestandteil des Entwurfsprozesses eines Geräts.

Lebenszyklus-Management

Der Lebenszyklus von medizinischen Geräten kann in einigen Fällen mehr als zehnmal länger sein als der von Konsumgütern. Heutzutage werden jedoch für einige Designbereiche in beiden Kategorien die gleichen Komponenten oder Technologien verwendet, und dies stellt das Design von Medizinprodukten vor Herausforderungen. In der Praxis müssen die kritischsten Komponenten so ausgewählt werden, dass die Verfügbarkeit der Komponenten während des gesamten Lebenszyklus des Produkts gesichert ist. Ein systematisches Lebenszyklusmanagement beinhaltet eine umfassende Second-Source-Richtlinie für alle Komponenten, die gemeinsam mit allen beteiligten Parteien, von der Konstruktion bis zu den Komponentenlieferanten, verwaltet wird.

Quellen

[1] Medical Device Market Report: Trends, Forecast and Competitive Analysis

[2] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017R0745&from=EN 

Lesetipp

Einen weiteren Fachartikel von Bittium lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der medical design. Diesen (»Drahtlose Echtzeit-Fernüberwachung von Notfallpatienten«, ab S. 40) und weitere lesen Sie auch im kostenfreien ePaper.


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