OEM-Praxiswissen

Strategien gegen die Engpässe

12. April 2022, 9:55 Uhr | Plexus
Die momentanen Engpässe treffen medizinische Geräte besonders, die längere Entwicklungszyklen haben und strenge Compliance-Vorgaben erfüllen müssen.
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Die globalen Lieferketten lassen medizintechnischen Herstellern und OEMs nicht viel Spielraum. Es gibt Auswege.

Die momentanen Engpässe treffen medizinische Geräte besonders, die längere Entwicklungszyklen haben und strenge Compliance-Vorgaben erfüllen müssen. Alexander Spiegel, Senior Director Healthcare/Life Science EMEA bei Plexus, erörtert mögliche Lösungen – von Drop-in-Replacements bis hin zu Re-Designs.

Die weltweite Knappheit an Halbleiterchips, Rohstoffen und Bauteilen sowie fehlende Kapazitäten in der Logistik und im Transport ist auch für Unternehmen aus der Medizintechnik ein akutes Problem. Egal ob Defibrillatoren, bildgebende Systeme oder implantierbare Herzschrittmacher – die Liste an Medizinprodukten, die auf Komponenten wartet, wächst. Im vergangenen Jahr gab es wohl kaum ein Unternehmen, das nicht von Störungen in der Lieferkette betroffen war. Die Preise steigen und Lieferverzögerungen zwischen zwei Wochen und einem Jahr sind keine Seltenheit. Die wirtschaftlichen Folgen sind bereits spürbar.

Impact-Analyse

Versorgungslücken lassen sich nie gänzlich verhindern, ihre Auswirkungen auf die eigene Fertigung können jedoch abgefedert werden. An erster Stelle steht hier die Impact-Analyse. Sie schafft einen genauen Überblick darüber, welche Komponenten und Produkte von Störungen betroffen sind, und welche Alternativen offenstehen. Dazu gehört die Überprüfung von Stücklisten (BOMs) sowie der Abgleich mit bekannten beziehungsweise potenziellen Engpässen für jeden Fertigungsstandort, jedes Produkt und jede Lieferkette. Auf dieser Basis können Teams eine Risikoeinstufung vornehmen, zum Beispiel für Teile, die aus Hochrisikogebieten stammen und für die es keine unmittelbaren Alternativen am Markt gibt. Bei Komponenten, die bereits unter normalen Marktbedingungen risikobehaftet sind (zum Beispiel Single Sourcing, lange Vorlaufszeiten oder mangelnde Qualität von Seiten des Zulieferers), sollte das Risikolevel bei der Beurteilung automatisch angehoben werden.
Eine enge Zusammenarbeit mit den Zulieferern ist dabei entscheidend. Denn das Ziel lautet auf beiden Seiten: Transparenz schaffen, Engpässe überwinden und Komponenten schnellstmöglich auf den Weg bringen. Ganz wesentlich ist auch die interne Koordination zwischen dem Supply-Chain-Team, dem Product Engineering sowie den Experten aus der Fertigung. Nur gemeinsam und auf Grundlage der Impact-Analyse lassen sich Risiken klassifizieren, Strategien entwickeln und nach ihrem Kosten-Nutzen-Verhältnis priorisieren. Wie effektiv welche Option ist, hängt dabei stark
von dem zu ersetzenden Bauteil, den Lieferketten sowie dem Produkt selbst ab.

Drop-in-Replacements

Können kritische Komponenten nicht geliefert werden, ist es das Naheliegendste nach sogenannten Drop-In-Replacements Ausschau zu halten. Diese »Ersatzteile« besitzen ähnliche Parameter in Bezug auf Elektrik und Abmessungen wie das Originalbauteil und garantieren eine Form-/Passform-/Funktionskompatibilität innerhalb der etablierten und alternativen Komponenten. Im besten Fall lässt sich die Bill-of-Material dann einfach um entsprechende Hersteller erweitern, während das Produktdesign unangetastet bleibt und der Dokumentationsaufwand sich in Grenzen hält.

Ähnliche Komponenten

Etwas anders verhält es sich mit funk­tionsgleichen Bauteilen, die in Bauform und Größe vom Originalteil abweichen. Kleine Modifizierungen des Designs sind hier keine Seltenheit, wobei sich der Umfang der Anpassungen von Produkt zu Produkt unterscheidet. Wo sich in einem Gerät problemlos ein Widerstand austauschen lässt, übernimmt er in einem anderen Gerät eine funktionskritische Rolle bei der Messung und muss spezielle Anforderungen erfüllen. Solche Critical-to-Function- (CTF)-Komponenten lassen sich anhand einer BOM allein nicht identifizieren. Spezifikationsvergleichs­tabellen helfen, die ursprünglichen Kom­ponenten sowie die vorgeschlagenen Alternativen zu vergleichen. Erst dann lässt sich eine vernünftige Entscheidung hinsichtlich alternativer Bauteile treffen.

Medizintechnik Halbleitermangel Lieferketten
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Re-Design

Fehlt es gänzlich an solchen Alternativen, bleibt vielen Herstellern oft nur noch das Re-Design als letzte Option. Die Überarbeitung beziehungsweise Neugestaltung eines Produkts kann nicht nur zeit- und kostenintensiv sein. In manchen Fällen ist auch eine neue Zertifizierung des Produkts unumgänglich. Um angesichts massiver Lieferengpässen jedoch überhaupt weiter produzieren zu können, bleibt vielen Herstellern keine andere Wahl. Dass damit eventuell auch der Zeitplan für die Markteinführung eines Produkts auf wackligen Beinen steht, muss zähneknirschend in Kauf genommen werden.

Hier gilt es aus der Not eine Tugend zu machen und das Re-Design auch als mögliche Chance anzusehen. Denn gerade in der Medizintechnik wird das Optimierungspotenzial von Produkten oft nicht voll ausgeschöpft. Der Grund ist eine einfache Kosten-Nutzen-Analyse: Die durch ein neues Design erzielten Einsparungen rechnen sich einfach nicht gegenüber den Qualifizierungskosten. Bei komplexen Hightech-Geräten sind zudem die Stückzahlen meist niedrig, wodurch der Skaleneffekt kaum eine Rolle spielt. Ist ein Re-Design aufgrund von Lieferengpässen unausweichlich, warum dann nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und lang geplante Verbesserungen oder neue Features im neuen Produktdesign gleich mit vornehmen? Hier bietet sich die Gelegenheit, ein bestehendes Design zu modifizieren, neue Features und Updates hinzuzufügen oder Fertigungsverfahren zu optimieren und damit Zeit und Kosten einzusparen.

Engineering, Supply Chain und Fertigung

Egal ob sich Hersteller auf die Suche nach alternativen Bauteilen machen
oder ein Re-Design des Produkts vor­nehmen – die Supply Chain muss bei jedem Ansatz mitgedacht werden. Drop-in-Replacements sind morgen vielleicht schon nicht mehr verfügbar und funktionsgleiche Bauteile sprengen eventuell jeglichen Budgetrahmen. In der industriellen Supply Chain wechseln die Lieferzeiten, Verfügbarkeiten und Preise momentan so schnell wie das Wetter. Was heute für den Betrag X geliefert werden kann, kostet morgen bereits das Doppelte oder ist erst in zwei Monaten wieder auf dem Markt. Planungssicherheit wird damit relativ.

Umso wichtiger ist es, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Optionen in Hinblick auf Aufwand sowie Kosten genau zu prüfen. Selbst das beste Re-Design hilft nur wenig, wenn nicht schon in der Entwicklungsphase die Supply Chain aktiv mitgedacht wird (Design for Supply Chain, DfSC). Die Gesamtverfügbarkeit aller Komponenten eines Produkt wiederum lässt sich nur auf Basis einer umfassenden Supply-Chain-Expertise analysieren. Und schließlich heißt es auch, den Feedback-Loop zwischen dem Engineering-Team und dem Manufacturing-Team offen zu halten, um die Umsetzbarkeit einer neuen oder angepassten Produktidee in der Praxis sicherzustellen (Design for Manufacturability, DfM). Engineering, Fertigung und Supply Chain ziehen in diesem Fall mehr denn je an einem Strang.

Den einen optimalen Weg aus der Supply-Chain-Krise gibt es nicht. Unternehmen sind vielmehr gefragt, ihre Strategien grundsätzlich zu überdenken und die Supply Chain Resilience nachhaltig auszubauen. So gehen mittlerweile mehr und mehr Hersteller dazu über, Safety Stocks aufzubauen und kritische Bauteile selbst einzulagern. Hier sind die Kosten planbar und Störungen der globalen Lieferkette können zumindest kurzfristig besser abgefangen werden. Der Aufbau eines solchen eigenen, lokalen Lagers kann zukünftig ein wichtiger Baustein für eine resiliente Supply Chain sein.

Lieferkette 2022: Es bleibt eng

Bei akuten Lieferengpässen hilft diese Strategie Herstellern jedoch wenig – zumal auch nicht jeder Hersteller die nötigen Mittel dazu hat. Externe Partner mit entsprechenden Design-, Technik- und Fertigungskompetenzen können hier von enormen Vorteil sein. Sie liefern wertvollen Input nicht nur bei der Suche nach alternativen Komponenten, sondern auch bei der Umsetzung neuer Designs sowie der Zertifizierung. Gemeinsam lässt sich besser entscheiden, welche Option für welchen Fall die richtige Wahl ist.

Eines steht jedoch fest: Wer als Unternehmen auf bessere Preise hofft, auf verfügbare Teile wartet und neue Produkte auf die lange Bank schiebt, wird mittel- und langfristig mit dem Wettbewerb am Markt nicht mithalten können. Zumal ein Ende der Supply-Chain-Krise schwer abzuschätzen und die Preise erfahrungsgemäß nicht auf das Niveau der Vor-Pandemie-Zeit zurückfallen werden. Die Lieferkette hat sich nachhaltig verändert und mit ihr zwangsläufig auch die Design- und Fertigungsstrategien von Medizingeräteherstellern. (me)


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