Living Heart Projekt

»Wir generieren ein gesamtheitliches Herzmodell«

23. September 2020, 15:04 Uhr | medical design
Das virtuelle Herz verbessert die Operationschancen
© Dassault Systèmes

Interview mit Björn Butz, Industry Solutions Technical Manager bei Dassault Systèmes

Basierend auf der Dassault Systèmes Software Simulia arbeitet das »Living Heart Projekt« daran, ein virtuelles Modell des menschlichen Herzens zu erstellen. Ziel ist es, die Wirkung von Stents und Medikamenten im Vorfeld zu simulieren und besser auf die individuellen Anforderungen jedes einzelnen Patienten abzustimmen. Langfristig könne so die medizinische Behandlung  und Versorgung von Herz-Patienten verbessert werden. Darüber hinaus unterstützt das Modell die Ausbildung von medizinischem Fachpersonal. Im Interview spricht Björn Butz Industry Solutions Technical Manager bei Dassault Systèmes, über die Hintergründe, Herausforderungen und Zukunft des Projekts.

Björn Butz Industry Solutions Technical Manager
Björn Butz Industry Solutions Technical Manager
© Dassault Systèmes

Warum spielt Simulation in der Kardiologie so eine große Rolle?

Viele Mediziner arbeiten noch immer mit 2D-Modellen, die kein realistisches Bild der Patientensituation wiedergeben können. Wir wollten diese mit unserer Simulations-Expertise unterstützen. 

Zudem hat sich die Modellierung in anderen Industrien bereits seit vielen Jahren bewährt. Beispielsweise werden heute in der Automobilindustrie kaum mehr physikalische Crashtests durchgeführt – diese erfolgen weitestgehend in einer virtuellen Umgebung. Hersteller können damit nicht nur kostengünstiger und schneller Tests durchführen, auch ist die Informationsfülle für Analysen weitaus größer. Diese Vorteile wollen wir langfristig auch im klinischen Alltag erreichen.

In welcher Art und Weise beeinflusst die Simulation von Organen die Entwicklung neuer Produkte für die Medizintechnik?

Zum einen werden damit schnellere Entwicklungszyklen möglich. Versuchsreihen können durch Simulation optimiert und in einer realistischen Umgebung durchgeführt werden. Beispielsweise können damit künstliche Herzklappen besser auf die Patientenbedingungen angepasst werden und physikalische Tests an extra angefertigten Modellen entfallen. Dies beschleunigt den Entwicklungsprozess merklich und spart zudem wertvolle Ressourcen.

Wie gelingt die Simulation eines so komplexen Organs wie dem Herzen?

Das Simulationsmodell besteht aus drei Komponenten: der Simulation der elektrischen Reizleitung des Herzmuskels, der mechanischen Berechnung der Herzkontraktion auf Basis der elektrischen Impulse und der Simulation der Blutströme des Herzens. Damit können wir ein gesamtheitliches Modell des Herzens generieren. 

Diese drei Schritte sind für sich schon sehr komplex, die Verbindung dieser drei Komponenten macht die Sache umso komplizierter. Gelungen ist dies jedoch mit der Software »Simulia«  auf der »3D-Experience-Plattform«. Dabei kam die Finite-Elemente-Methode zum Einsatz. Die Berechnung von einzelnen Herzmuskelzellen wäre viel zu aufwändig und zeitintensiv. Die Herzoberfläche wird daher in definierte Rechenelemente zerlegt und das Ergebnis skaliert. Die gewonnenen Daten besitzen die gleiche Aussagekraft, wie die Resultate einzelner Zellberechnungen.

Welchen Herausforderungen sind Ihnen beim Living Heart Projekt begegnet?

Die Validierung ist eine grundsätzliche Herausforderung für uns. Bei der Erstellung der Grundgeometrie des Herzens wurden viele unterschiedliche Parameter berücksichtigt – aber auf Grund der Komplexität noch nicht alle. Das Living Heart konnte daher erst einmal nur eine qualitative Validierung durchführen, die wir anhand von realen Beobachtungen und der Konformität mit vergleichbaren Daten aus der Wissenschaft vergleichen konnte. Hier gibt es sicher noch neue Wege, die wir gehen müssen, um den Validierungsprozess zu verbessern. Ebenso anspruchsvoll war die realistische Simulation der Herzklappen, da hier eine Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren eine Rolle spielt. 

Stehen einzelne Patientengruppen besonders im Fokus?

Personen mit kardiovaskulären Erkrankungen stehen natürlich besonders im Mittelpunkt. Aber auch bei Patienten mit angeborenen Herzfehlern kann das Living Heart echte Vorteile in der Behandlung bringen. Etwa bei Neugeborenen mit hypoplastischem Linksherzsyndrom müssen Chirurgen nach der Geburt in kurzer Zeit einen äußerst komplexen Eingriff durchführen, haben aber oftmals keinen genauen Überblick über die realen Bedingungen im Körper des Patienten. Der Arzt kann durch Simulation eine virtuelle Operation durchführen und verschiedene Methoden testen. Diese Möglichkeit, ergänzt durch die Erfahrung des Mediziners, gewährleistet eine verbesserte Behandlung des Patienten.

Welche Chancen sehen Sie in der Kardiologie in den kommenden 10 Jahren?

Eine Herausforderung der Zukunft wird es sein, dass es zum einen immer mehr Patienten geben wird, die personellen und monetären Ressourcen der Krankenhäuser aber geringer werden. Daher müssen Medizingeräte zukünftig effektiver und kostengünstiger werden sowie schneller auf den Markt kommen. Wir rechnen daher damit, dass die Entwicklung von Medizintechnik durch virtuelle klinische Tests beschleunigt und verbessert wird. 

Zudem sehen wir die Chance, dass Modelle wie das Living Heart vermehrt direkt in Krankenhäusern bei der Patientenbehandlung durch virtuelle Operationen zum Einsatz kommen. Dadurch können passende Behandlungsmöglichkeiten genauer definiert werden und somit Patienten bei der Genesung noch besser unterstützen. Wir glauben daher, dass wir zukünftig eigene Simulationsabteilungen in Krankenhäusern antreffen werden, die die reale Patientenbetreuung um eine virtuelle Modellierung erweitern.

Wie sehen die nächsten Schritte im Living Heart Projekt aus?

Wir arbeiten aktuell an einer spannenden Erweiterung des Living Heart Projekts: Momentan kommt noch ein Modell eines gesunden Herzens zum Einsatz. In Zukunft wollen wir eine Vielfalt an verschiedenen Herzmodellen zur Verfügung stellen, die die speziellen Patientengegebenheiten wie Alter, Größe oder Vorerkrankungen berücksichtigen. Diese Datenbank wird dann Medizinern direkt zugänglich gemacht und verbessert somit die Patientenbetreuung zusätzlich.

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