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Algorithmen und Mini-Organe statt Tierversuche

17. August 2018, 11:00 Uhr | Melanie Ehrhardt
Von den rund 3 Mio. Versuchstieren machten Mäuse 2016 fast die Hälfte aus.
© Friso Gentsch/dpa

Alle wollen Medikamente – da redet man nur sehr ungern über Tierversuche. An Alternativen wird zwar fieberhaft geforscht, diese müssen sich aber nach wie vor beweisen. Bleiben Tierversuche also auch in Zukunft ein notwendiges Übel?

In Baden-Württemberg haben sie es sich ganz groß auf die Agenda geschrieben: Das Land unterstützt mit 230.000 Euro die Erforschung von Alternativen zu Tierversuchen. »Wir wollen die Zahl und die Belastung von Versuchstieren in Baden-Württemberg weiter verringern«, erklärte Agrarminister Peter Hauk (CDU) Anfang August in Stuttgart. Die Förderung für die Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch sei ein bedeutender Baustein für mehr Tierschutz. In manchen Bereichen, etwa der angewandten medizinischen Forschung, gebe es noch keine ausreichenden Alternativen.

Obwohl Tierversuche schon lange in der Kritik stehen, zeigen die Statistiken ein anders Bild. Allein in Deutschland gab es 2016 fast drei Millionen Tierversuche – mehr als im Vorjahr. Rund die Hälfte davon waren Mäuse, gefolgt von Fischen, Ratten, Kaninchen und Vögeln. Unter den Versuchstieren waren auch fast 4000 Hunde, rund 2460 Affen und Halbaffen sowie rund 770 Katzen. Mit zunehmender Anzahl wird auch die Kritik lauter. Dies liegt einerseits an der ethischen Fragwürdigkeit der Versuche an sich, andererseits haben sich in vielen wissenschaftlichen Studien deutliche Defizite bei der Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen gezeigt. Schwerwiegende Nebenwirkungen bei klinischen Studien am Menschen sind dann die Folge. Viele Mediziner, Wissenschaftler und natürlich auch Patienten wünschen sich daher alternative Technologien, die die komplexen Prozesse bei der Aufnahme, Verteilung und Wirkung von Medikamenten oder Kosmetika im menschlichen Körper vorhersagen können.

Maßgeschneiderte Systeme

Frank Sonntag vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnikarbeitet schon seit 2010 an einer Alternative zu Tierversuchen: »Die am Institut entwickelten mikrophysiologischen Systeme sind miniaturisierte Zellkultursysteme in der Größe einer Visitenkarte, die pharmakologisch relevante Funktionsmechanismen des menschlichen Körpers nachbilden. Dazu zählen neben der Verteilung von Substanzen über ein Gefäßnetzwerk das mikrophysiologische Milieu der Körperzellen und die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Zelltypen. Damit können die biochemischen und zellulären Abläufe der Organe des menschlichen Körpers nachgestellt werden.« Das sei notwendig, um komplizierte pharmazeutische Tests, die derzeit in Tierversuchen stattfinden, zu ersetzen.

Konkret ahmen Forscher durch die gemeinsame Kultivierung mehrerer menschlicher Zelltypen im mikrophysiologischen System die Funktion von Organen oder Organteilen nach. Wie auch im menschlichen Körper benötigen verschiedene Zelltypen unterschiedliche Bedingungen um ihren spezifischen Funktionen nachzukommen. Die Aufgabe der Entwickler ist es, maßgeschneiderte mikrophysiologische Systeme für verschiedene Organe auf dem Chip zu entwickeln und somit die Zahl von Tierversuchen zu reduzieren. Wichtige Körperfunktionen wie die konstante Regelung der Temperatur auf 37 °C werden in allen mikrophysiologischen Systemen durch technische Lösungen wie Heiz- und Kühlelemente bereitgestellt.

Das Besondere an den am Fraunhofer IWS entwickelten mikrophysiologischen Systemen ist eine miniaturisierte Pumpe, die dem menschlichen Herz nachempfunden ist. Angetrieben durch einen speziellen Controller lässt sie blutähnliches Zellkulturmedium im künstlichen Gefäßnetzwerk zirkulieren und sorgt so für die optimale Versorgung der Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen. Die Größe des Gefäßnetzwerkes kann mithilfe mathematischer Modelle berechnet werden.

Frank Sonntag entwickelt seit 2010 mikrophysiologische Systeme um Tierversuche zu ersetzen.
Frank Sonntag entwickelt seit 2010 mikrophysiologische Systeme um Tierversuche zu ersetzen.
© Fraunhofer IWS

  1. Algorithmen und Mini-Organe statt Tierversuche
  2. Computerbasierte Voraussagen

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