Mikroelektronik in der Bioanalytik

Gesund durch Elektronik

26. Mai 2014, 8:21 Uhr | von Prof. Bernhard Wolf und Karolin Herzog

Mikroelektronik lässt sich heute auch für die Lösung medizinischer Fragestellungen und in der Bioanalytik erfolgreich einsetzen. So erlauben multiparametrische Chips in Silizium-, Glas-, Keramik- und Drucktechnologie metabolische Untersuchungen von Stoffwechselalterationen an Tumorzellen sowohl in vitro als auch in vivo.

Bild 1: Palette der am HNLME hergestellten Sensor-Chips (in Silizium-, Glas-, Keramik- und Drucktechnologie hergestellt) für den Einsatz in der Bioanalytik
Bild 1: Palette der am HNLME hergestellten Sensor-Chips (in Silizium-, Glas-, Keramik- und Drucktechnologie hergestellt) für den Einsatz in der Bioanalytik
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Das Forschungsgebiet der Mikroelektronik hat sich in den letzten 50 Jahren spektakulär entwickelt und stetig erweitert. Ursprünglich zumeist für Systeme der Nachrichten- und Datentechnik konzipiert, kommen entsprechende Technologien heute auch für die Lösung medizinischer Fragestellungen zur Anwendung und in der Bioanalytik erfolgreich zum Einsatz. Auf der Basis umfangreicher Grundlagenforschung an den Standorten Freiburg, Rostock und München hat die Gruppe um Bernhard Wolf vom Heinz Nixdorf-Lehrstuhl für Medizinische Elektronik (HNLME) an der Technischen Universität München über die letzten 25 Jahre hinweg eine Reihe von medizinelektronischen Geräten entwickelt. Diese sind mittlerweile in der medizinischen Erprobung oder bereits im praktischen Einsatz. In Ausgründungen und Partnerfirmen wurde die technische Qualität der Systeme bis zur Zertifizierung beständig weiter perfektioniert.

Ausgehend von der elektronenmikroskopischen Erforschung von Stoffwechselalterationen an Tumorzellen wurden analytische Mikrosysteme entwickelt, die sowohl in vitro als auch in vivo metabolische Untersuchungen an Tumoren erlauben. Diese multiparametrischen Chips, in unterschiedlichen Technologien ausgeführt (Silizium-, Glas-, Keramik-, Drucktechnologie), kommen sowohl für die originären medizinischen Fragestellungen als auch für andere analytische Lösungen im Bereich der Bioanalytik zum Einsatz (Bild 1).

Chip statt Maus

Bild 2a: Das IMOLA-Analysesystem von cellasys ist in Klinikforschung und Umweltanalytik einsetzbar
Bild 2a: Das IMOLA-Analysesystem von cellasys ist in Klinikforschung und Umweltanalytik einsetzbar
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Um Tierversuche im Rahmen der Wirkstoffsuche zu ersetzen (Wirkstofftestung oder Umweltanalytik), werden verschiedene Lösungen für zelluläre Tests erprobt. Eine Form davon ist die multiparametrische Untersuchung lebender Zellen und Gewebe in einer zu In-vivo-Tests gleichwertigen Umgebung. Möglich wird dieser Ansatz durch zelluläre Assays, also standardisierten Reaktionsabläufen zum Nachweis einer Substanz, auf bioelektronischen Sensorchips. Dabei ersetzt der Chip sozusagen das lebende Versuchstier. In die Chips integrierte Sensoren erfassen unterschiedliche Parameter der Zellen, die es erlauben, auf Reaktionen ihres Metabolismus zu schließen.

Die Zellen werden im Hinblick auf die extrazelluläre Ansäuerung (pH), die zelluläre Atmung (pO2), Änderungen der zellulären Morphologie (Bioimpedanz), sowie Biopotenziale und die Temperatur untersucht. Dabei geben die extrazelluläre Ansäuerung und die zelluläre Atmung Aufschluss über die Vitalität der Zell- oder Gewebeprobe, während die Bioimpedanz-Messung Informationen über die Proliferations- und Morphologieänderungen liefert.

Bild 2b: Ein einzelner Biochip, wie er beispielsweise in das IMOLA-System eingefügt wird
Bild 2b: Ein einzelner Biochip, wie er beispielsweise in das IMOLA-System eingefügt wird
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Mit dieser Versuchsform lassen sich beispielsweise Wirkstoffe an Zellen testen, ohne dass dabei Tiere zu Schaden kommen. Für die Messungen entwickelten die Forscher das mobile Testsystem »IMOLA« (Bild 2a).

Dieses »Intelligente MObile LAbor«, ein Fluidiksystem, in das sich der Chip mit den Zellen einsetzen lässt, besteht aus einer Pumpe und unterschiedlichen Gefäßen für Zellkulturmedien. Über die Fluidik kann Wirkstoff zu den Zellen zugegeben oder ausgespült werden (Bild 2b). Das geschlossene mobile System ermöglicht einen einfachen Betrieb außerhalb von Reinraumlaboratorien.

Ein ergänzendes Softwaremodul konfiguriert und kontrolliert den Verlauf der Experimente, mit seiner Hilfe lassen sich Pumpzyklen, Flussgeschwindigkeit, Auswahl des Zellkulturmediums und Dauer der Experimente einstellen.

Bild 3: Ansäuerungsaktivität von 3-D-Mikrogewebe: Nach Zugabe von SDS (Sodium Dodecyl Sulfat – Natriumlaurylsulfat, Konzentration 3%) – ca. 20 h bis 25 h – ist die Aktivität des Gewebes deutlich reduziert. Wird das Toxin wieder weggenommen, erholen s
Bild 3: Ansäuerungsaktivität von 3-D-Mikrogewebe: Nach Zugabe von SDS (Sodium Dodecyl Sulfat – Natriumlaurylsulfat, Konzentration 3%) – ca. 20 h bis 25 h – ist die Aktivität des Gewebes deutlich reduziert. Wird das Toxin wieder weggenommen, erholen sich die Zellen vollständig. Daraus lässt sich ableiten, dass keine bleibenden Schäden durch das Toxin verursacht wurden
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Zusätzlich stellt das System die Messdaten grafisch dar und legt sie in einer Datenbank ab. Die IMOLA-Technik wurde in dem ausgegründeten Unternehmen cellasys (www.cellasys.com) zur Marktreife weiterentwickelt und kommerzialisiert.

Mit dem IMOLA-System haben die Wissenschaftler bereits unterschiedliche lebende Zelltypen wie Suspensionszellen (zum Beispiel Hefen und Algen), adhärente Zelllinien (beispielsweise MCF-7, L929, HeLa), humanes Primärgewebe oder dreidimensionale Sphäroide untersucht.

Bild 3 veranschaulicht in einer Beispielmessung die Ansäuerungsaktivität von 3-D-Mikrogewebe. Schlüsselexperimente haben Anwendungspotenziale in den Bereichen individualisierte Chemotherapie, Wirkstoffentwicklung, regenerative Medizin, Alternativmethoden zu Tierversuchen und Umweltmonitoring belegt.

Handlicher Verbraucherschutz

Bild 4: Funktionsdarstellung des Handheldsystems »μLa« für mobile zellbiologische Assays (standardisierte Reaktionsabläufe zum Nachweis einer Substanz)
Bild 4: Funktionsdarstellung des Handheldsystems »μLa« für mobile zellbiologische Assays (standardisierte Reaktionsabläufe zum Nachweis einer Substanz)
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Durch eine weitere Miniaturisierung des Systems ist ein tragbares, drahtlos arbeitendes Handheld-Gerät entstanden. Mit dem unter dem Namen »μLa« (Mikro-Labor) realisierten Instrument (Bild 4) konnten – über die Vitalitätsbestimmung an lebenden Zellen – Experimente zur Untersuchung von Lebensmitteln durchgeführt werden.

In diesen Experimenten überprüften die Forscher den Einfluss von handelsüblichen Spritzmitteln (Fungiziden) auf die Vitalität von Hefezellen.

Erstmals zeigte sich, dass lebende Zellen als Signalwandler für Lebensmitteltests einsetzbar sind.

Im Experiment hatte selbst die niedrigste vom Hersteller empfohlene Konzentration des Mittels bereits Einfluss auf die Vitalität der Zellen.

Mit dem Mikro-Labor sind demnach Tests auf xenogene Rückstände schnell und sensitiv zu realisieren.

Automatisierte Analytik

Bild 5a: Pipettierroboter des »Intelligent Microplate Reader«
Bild 5a: Pipettierroboter des »Intelligent Microplate Reader«
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Das Prinzip der (multiparametrischen) Messungen an Zellen fand seine Fortsetzung in Form einer komplexen Zell-Chip-Plattform, dem »Intelligent Microplate Reader« (Bild 5a). Mit diesem automatisierten Pipettier-Roboter wird das dynamische Antwortverhalten von Zellen auf äußere Einflüsse realitätsnah und unter Echtzeitbedingungen untersucht: Gleich mehrere Zellparameter zeichnet das System auf und mikroskopiert sie.

Bild 5b: Pipettier-Vorgang im Detail
Bild 5b: Pipettier-Vorgang im Detail
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Der IMR besteht aus einem Pipettier-Roboter, einem Klimatisierungssystem, wahlweise einer Ausleseeinheit für opto-chemische Sensoren oder einem vollautomatisierten Prozessmikroskop, sowie einer elektronischen Einheit zum Auslesen elektrochemischer Sensoren (Bild 5b). Dank des automatisierten Austausches der verwendeten Kulturmedien bzw. der Zugabe von Wirkstofflösungen unter definierten Umgebungsbedingungen lassen sich Assays mit einer Laufzeit von mehreren Tagen bis zu einigen Wochen durchführen.

Bild 6: Das Dreikammer-Fluidiksystem einer Well
Bild 6: Das Dreikammer-Fluidiksystem einer Well
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Für die Tests wurde eine multiparametrische Mikrotiterplatte mit mehreren Sensoren für morphologische und metabolische Parameter ausgestattet und ein 3-Kammer-Fluidiksystem (Bild 6) integriert.

Bild 7a: Die Intelligente Multiwellplatte mit Sensorik setzt sich aus einem Glassubstrat verbunden mit einem Grundkorpus und einem speziellen Reduktionseinsatz (Bild 7b) zusammen
Bild 7a: Die Intelligente Multiwellplatte mit Sensorik setzt sich aus einem Glassubstrat verbunden mit einem Grundkorpus und einem speziellen Reduktionseinsatz (Bild 7b) zusammen
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

Die speziell für den Roboter entwickelte Sensorplatte (Bild 7a) umfasst 24 einzelne Reaktionskammern (Wells).

Jede Well beinhaltet jeweils einen opto-chemischen Sensor für pH-Wert und Gelöst-Sauerstoff sowie eine interdigitale Elektrodenstruktur aus Platin zur Messung des komplexen Wechselstromwiderstandes.

Bild 7b: Die Intelligente Multiwellplatte mit Sensorik setzt sich aus einem Glassubstrat (Bild 7a) verbunden mit einem Grundkorpus und einem speziellen Reduktionseinsatz zusammen
Bild 7b: Die Intelligente Multiwellplatte mit Sensorik setzt sich aus einem Glassubstrat (Bild 7a) verbunden mit einem Grundkorpus und einem speziellen Reduktionseinsatz zusammen
© TU München Heinz Nixdorf-Lehrstuhl

In der Mitte jedes auf dem Glassubstrat der Platte aufgebrachten Wells befindet sich eine freie mikroskopierbare Fläche, auf welcher die Bildgebung im Durchlicht- bzw. Fluoreszenzverfahren erfolgt (Bild 7b). Die Zellen bzw. Gewebeproben werden im Sensorbereich des Wells kultiviert.

Therapie ganz persönlich

Bild 8: Chemosensitivitäts-Messung einer humanen Mammakarzinom-Probe: Die Zugabe des (aus Ifosfamid oder Cyclophosphamid gebildeten) Metaboliten Chloracetaldehyd (CAA) führt bei dieser Probe zu einer starken Abnahme von Ansäuerungsaktivität und Sauer
Bild 8: Chemosensitivitäts-Messung einer humanen Mammakarzinom-Probe: Die Zugabe des (aus Ifosfamid oder Cyclophosphamid gebildeten) Metaboliten Chloracetaldehyd (CAA) führt bei dieser Probe zu einer starken Abnahme von Ansäuerungsaktivität und Sauerstoffverbrauch, während der Effekt von Doxorubicin wenig ausgeprägt ist. Durch statistische Tests und gezielte Kontrollen lassen sich Aussagen über die erwartete Sensitivität machen und eine Personalisierung der Therapie gestalten.
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Das IMR-System dient unter anderem der individualisierten Tumor-Chemotherapie. Funktionale Tests an den Zellen analysieren das Reaktionsverhalten humaner, explantierter Tumorgewebe (zum Beispiel Mammakarzinom) auf Chemotherapeutika in Echtzeit und ohne Markierungsschritte. Anhand der erkannten zellmetabolischen Raten lässt sich beurteilen, ob eine signifikante Chemosensitivität besteht oder nicht. Dadurch ergeben sich differenziertere Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich der Medikation.

In Bild 8 ist eine Chemosensitivitäts-Messung einer humanen Mammakarzinom-Probe dargestellt. Ein solcher personalisierter Test der pharmakologischen Wirksamkeit verabreichter Präparate bietet den behandelnden Ärzten und auch den betroffenen Menschen eine zusätzliche rationale Basis für die Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie.

Über Ausgründungen des HNLME und das angeschlossene Innovationszentrum Medizinische Elektronik (IME e.V.) sowie mit industriellen Partnern erfolgt bereits die Umsetzung der hier dargestellten Chiptechnologien und Zell-Testsysteme in die Praxis. Die funktionalen Tests zur Messung der Chemosensitivität für die individualisierte Tumor-Therapie werden derzeit im Rahmen einer klinischen Studie standardisiert und evaluiert.

Über die Autoren:

Prof. Bernhard Wolf ist Ordinarius am Heinz-Nixdorf-Lehrstuhl für Medizinische Elektronik der Technischen Universität München und Karolin Herzog ist am selben Lehrstuhl zuständig für Kommunikation und Projektkoordination.


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