Hirnstammimplantat

Hören ohne Hörorgane

22. Juli 2014, 16:57 Uhr | Marcel Consée
Der 11-jährige Patient mit den beiden Ärzten, die ihm zu Hörvermögen verhelfen
© Sankt Gertrauden-Krankenhaus, Berlin

Vor kurzem setzte ein interdisziplinäres Ärzteteam einem 11-jährigen Jungen ohne Hörorgane erstmals ein sogenanntes Auditorisches Hirnstammimplantat zur Wiederherstellung seines Hörvermögens ein. Dieses setzt direkt am Hirnstamm an und überbrückt damit das gesamte Innenohr.

ABI (Auditory Brainstem Implant, auditorisches Hirnstammimplantat) heißt die Technik, die auch für Kandidaten mit erkranktem Hörnerv oder ohne cochleäre Strukturen in Frage kommt. Die Operation sowie der Heilungsprozess verliefen völlig komplikationsfrei. Die Ärzte prüfen nun, welche Höreindrücke der Junge später wahrnehmen wird. Bei der Behandlung arbeitete das Ärzteteam eng mit dem Entwickler MED-EL zusammen, der sein Know-how in der Versorgung mit Hirnstammimplantaten zur Verfügung stellte.

Bisher kamen Auditorische Hirnstammimplantate vor allem für Betroffene von Neurofibromatose Typ 2 (NF2) in Frage. Bei dieser Indikation sind die Hörnerven beidseitig erkrankt, was in den meisten Fällen mit Hörverlust einhergeht. Da ein Cochlea-Implantatsystem (CI) einen funktionsfähigen Hörnerv voraussetzt und somit hier keine Lösung darstellt, arbeiten Mediziner heute mit Auditorischen Hirnstammimplantaten.

Das ABI besteht aus zwei Komponenten: einem Audioprozessor, der extern hinter dem Ohr getragen wird und einem Implantat. Das Implantat verfügt über eine Silikonmatrix mit zwölf Elektrodenkontakten. Die Matrix wird operativ direkt am Hirnstamm platziert und ist die aktive Schnittstelle zwischen Implantat und Nervengewebe. Eine zusätzliche Referenzelektrode erlaubt telemetrische Messungen für verlässliche Funktionssicherheit und -Kontrolle. Das Implantat stimuliert den Nucleus Cochlearis direkt am Hirnstamm und erlaubt den Implantat-Nutzern, damit ein Spektrum verschiedener Tonhöhen wahrzunehmen.

Der Fall des 11-jährigen Jungen bringt die Experten des Sankt Gertrauden-Krankenhauses einen großen Schritt weiter: zukünftig soll die ABI-Technologie auch weiteren Patienten ohne Hörorgane zugute kommen. In der Regel werden Kinder ohne Hörvermögen möglichst früh mit einem CI versorgt. Im Fall des 11-jährigen Jungen waren jedoch keinerlei Aufnahmestrukturen vorhanden, die hierfür notwendig sind. Da der Junge ansonsten völlig gesund war, entschieden sich die Ärzte für die Versorgung mit einem ABI.

Der Eingriff stellte auch für das Berliner Ärzteteam eine ganz neue Herausforderung dar, da chirurgische Eingriffe direkt am Hirnstamm einige Erfahrung im neurochirurgischen Bereich erfordern. Die Platzierung der Elektrode muss dabei in der OP-Situation an die individuellen anatomischen Gegebenheiten angepasst werden. Elektrophysiologische Messungen garantieren während des Einsetzens die optimale Positionierung des Implantats. Bereits bei der OP können die Ärzte, dank funktioneller Diagnostik, feststellen, welche Areale im Gehirn gute Resonanz geben, sprich, welche Hörfähigkeiten der Patient nach der Behandlung später erreichen kann.

»Das Einsetzen eines Auditorischen Hirnstammimplantats setzt fundierte Kenntnisse der Schädelbasischirurgie voraus. Dank des breit gefächerten Know-hows innerhalb des Sankt Gertrauden-Krankenhauses und der engen, interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Neurochirurgie und Hals-Nasen-Ohrenheilkunde war die Operation ein voller Erfolg. Der positive Verlauf eröffnet uns nun viele neue Perspektiven«, so Priv.-Doz. Dr. med. Jan Kaminsky, Chefarzt der Neurochirurgie des Sankt Gertrauden-Krankenhauses.

Wie bei anderen Hörimplantaten ist jedoch auch nach dem Einsetzen eines Hirnstammimplantats und dem anschließenden Heilungsprozess, intensives Rehabilitationstraining essentiell, um Klänge interpretieren und Sprache verstehen zu lernen. Auch bei der Versorgung mit einem ABI ist deshalb eine möglichst frühe Behandlung sinnvoll, um Kindern eine optimale auditive und soziale Entwicklung zu ermöglichen: »Bei Kindern empfiehlt sich eine Implantation noch vor dem dritten Lebensjahr. Das Ziel ist es, ein möglichst gutes Sprachverstehen zu erreichen, um den jungen Patienten eine bestmögliche Kommunikationsfähigkeit zu ermöglichen. Bereits bei der Versorgung mit Cochlea-Implantaten, die seit Jahren zu unserem Leistungsspektrum gehört, hat sich gezeigt, je jünger der Betroffene, desto besser wird das spätere Hörergebnis«, so Prof. Dr. med. Oliver Kaschke, Chefarzt der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde am Sankt Gertrauden-Krankenhaus.


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