Per Sensor und KI

Intelligente Kleidung ist der bessere Neurologe

30. Januar 2023, 10:39 Uhr | Ute Häußler
In Kleidung getragene Sensoren erkennen mit KI neurogenerative Krankheiten deutlich früher als geschulte Neurologen.
© Pixabay

Bayreuther Forschende entwickeln intelligente Kleidung, die Bewegungen überwacht und neurologische Erkrankungen doppelt so früh erkennt. Digitale Biomarker ermitteln das Krankheitsstadium und -verläufe mit bisher unerreichter Genauigkeit.

Internationale Forschungsgruppen unter der Leitung von Prof. Dr. Aldo Faisal, Professur für Digital Health an der Universität Bayreuth, haben ein neuartiges Instrumentarium für die Diagnostik und Überwachung neurologischer Erkrankungen entwickelt. In Kleidung verarbeitete und so direkt am Körper getragenen Sensoren (Wearables) und Künstliche Intelligenz diagnostizieren bereits erfolgreich Friedreich-Ataxie und Duchenne-Muskeldystrophie. Die Forschung gibt Hoffnung für die frühzeitigste Erkennung weiterer neurodegenerativer Krankheiten.

Wenn das Hemd die Neuro-Diagnose stellt

Für ihre Fallstudien haben die Forschungsgruppen Sensoren genutzt, um die Körperbewegungen erkrankter Personen während ihres normalen täglichen Lebens registrieren. Algorithmen verarbeiten die von den Sensoren übermittelten Signale. Das KI-System identifiziert für eine neurologische Erkrankung charakteristische Bewegungsmuster, die selbst für erfahrene Neurologen unsichtbar bleiben. Es ermittelt auch das Krankheitsstadium und kann mit hoher Genauigkeit vorhersagen, welchen weiteren Verlauf die Erkrankung ohne Therapie voraussichtlich nehmen wird.

Die sensorgestützten Algorithmen fungieren als digitale Biomarker, die erstmals ein präzises und kontinuierliches Patienten-Monitoring erlauben. In diagnostischer Hinsicht sind diese Biomarker den etablierten klinischen Verfahren zur Erkennung neurodegenerativer Krankheitsbilder überlegen: Vom Ausbruch einer Erkrankung bis zum Aufspüren charakteristischer Symptome verstreicht nur etwa halb so viel Zeit wie bei der Anwendung traditioneller Methoden.

Motorische Störungen früh erkennen

Die beiden 2023 veröffentlichten Fallstudien zur Friedreich-Ataxie und zur Duchenne-Muskeldystrophie zeigen, dass die neue Technologie auf alle Erkrankungen anwendbar ist, die Störungen oder Veränderungen des Bewegungsverhaltens verursachen. Vor allem bei Erkrankungen, für die ein schleichender oder sehr wechselhafter Verlauf charakteristisch ist, kann sie wertvolle diagnostische und therapeutische Unterstützung leisten.

»Die systematische Verknüpfung von Wearables und Künstlicher Intelligenz versetzt die Medizin erstmals in die Lage, auch für seltene neurodegenerative Krankheiten Therapiekonzepte zu entwickeln, die auf die individuelle körperliche Verfassung der Patientinnen und Patienten zugeschnitten sind. Nach Beginn einer Therapie können unsere Biomarker dabei helfen, deren Wirksamkeit zu überprüfen und gegebenfalls nötige Anpassungen vorzunehmen«, sagt Prof. Dr. Aldo Faisal. Als Professor für Digital Health an der Universität Bayreuth wird er sie am Standort Kulmbach in einem neuen „Quantitative Living Lab (QLiLa)“ weiterentwickeln, das sich derzeit im Aufbau befindet.

Vielversprechende Praxis-Studien

Die Friedreich-Ataxie beruht auf einer genetisch bedingten Störung der körpereigenen Produktion des Proteins Frataxin. Die Diagnose wird oft dadurch erschwert, dass viele neurologischen Erkrankungen ähnliche Symptome hervorrufen. Die neuen Biomarker sind in der Lage, die genetische Steuerung der Frataxin-Produktion im Zeitverlauf zu überwachen. Erstmals kann jetzt die Aktivität von Genen im Menschen nur anhand von Bewegungsdaten, ohne die Entnahme von Blut- oder Gewebeproben, gemessen werden. Dies ermöglicht langfristige Prognosen, zu denen die etablierten klinischen Verfahren nicht in der Lage sind, und erspart Patienten langwierige Untersuchungsreihen.

Die Duchenne-Muskeldystrophie ist eine genetisch bedingte Muskelerkrankung, die schon im frühen Kindesalter beginnt. Vor allem wegen starker Beeinträchtigungen der Atemfunktion ist die Lebenserwartung der Erkrankten oftmals sehr begrenzt. Der in Klumbach entwickelte Biomarker »KineDMD« vermittelt ein zuverlässiges Gesamtbild der aktuellen motorischen Fähigkeiten einer erkrankten Person. Die Wirkungen therapeutischer Maßnahmen werden zeitnah und präzise überwacht.

KI, Ingenieurskunst und Medizin

»Unsere Forschungsergebnisse enthalten zahlreiche Anknüpfungspunkte dafür, diese Technologie auf andere neurodegenerative Erkrankungen, aber auch auf kardiologische und orthopädische Erkrankungen auszuweiten – bis hin zu Schädigungen des Nervensystems, die beispielsweise durch einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt verursacht wurden. Das Projekt zeigt, wie weit man kommen kann, wenn Forschende der Künstlichen Intelligenz, Ingenieurwissenschaften, Lebenswissenschaften und klinischer Medizin im Team arbeiten«, sagt Prof. Dr. Aldo Faisal.

Forschung im Reallabor

Das Quantitative Living Lab (QLiLa) der Universität Bayreuth ist ein weltweit einzigartiges Vorhaben. In zwei Labor-Wohnungen soll am Standort Kulmbach erforscht werden, KI-Methoden für gesundheitsrelevante Fragen einzusetzen und sie direkt in den Lebensalltag zu integrieren. Forschende der Ingenieurwissenschaften, der Informatik, den Verhaltens- und den Neurowissenschaften arbeiten Hand in Hand, um menschliches Verhalten zu analysieren und neue Technologien für ein langes, gesundes und selbständiges Leben zu entwickeln. Statt Wissenschaft in abstrakten Experimenten im Labor oder im Krankenhaus durchzuführen, sollen Menschen künftig in ihrem täglichen Leben mit digitalen Verfahren untersucht und behandelt werden können. (uh)

 

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