Medizintechnik-Entwicklung

Was bedeutet Embedded KI für MedTech?

4. November 2022, 8:00 Uhr | Ein Interview von Ute Häußler
Viacheslav Gromov ist Geschäftsführer von Aitad und beitet mit derzeit 20 Mitarbeitern echte Embedded-KI-Expertise als Entwicklungsservice an.
© Aitad

Experten-Interview über das medizinische KI-Potenzial, sich verändernde Entwicklungszyklen, die Wichtigkeit von Daten und die disruptiven Ansätze von eingebetteter Intelligenz.

Künstliche Intelligenz verändert auch die Medizintechnik. Mit mehr Rechenpower auf immer kleineren Bauteilen wandert die KI sogar in die Geräte. Wir sprechen mit Viacheslav Gromov vom deutschen Embedded-KI-Anbieter Aitad über den Stand der Technik und die sich wandelnde Entwicklung von intelligenten Medizingeräten.

Herr Gromov, inwieweit ist Embedded-KI in der Medizin ein echter Innovationstreiber?

Embedded-KI ermöglicht, was die Medizintechnik seit Jahren als Herausforderung sah, aber aufgrund technischer Beschränkungen nicht realisieren konnte. Die künstliche Intelligenz ist nun im Device selbst praktizierbar, ohne den Einsatz von sicherheitskritischen Cloud-Anbindungen oder größeren, teureren Zentralelementen wie PCs oder großen GPU-gestützten Steuerungen. Wesentliche Trendtreiber dieser Technologie sind ihre Kerneigenschaften: Embedded-KI ist sicher, ressourcensparend und kostengünstig im Sinne der nicht benötigten Netzwerkanbindung. Gleichzeitig fungiert sie in Echtzeit, liefert also Ergebnisse und Entscheidungen innerhalb von Millisekunden.

Welche medizinischen Bereiche profitieren am meisten von Embedded-KI?

Die Bandbreite reicht von Personal Health über OP-Ausrüstung bis hin in die Patientenversorgung und -pflege. Nehmen Sie zum Beispiel ein Heimanwender-Atemgerät oder eine Prothese, die sich durch Sprache oder Nutzungsprofil (Bewegung, Atemfluss) an den Nutzer anpasst bzw. automatisch ihre Funktion ändert. Im OP-Saal kann sich die Beleuchtung durch Operationsgebiet-Erkennung automatisiert auf den jeweiligen OP-Schritt mit Lichtstärke und -temperatur anpassen. Und Krankenbetten können beispielsweise durch Lidar- oder Drucksensoren die Lage des Patienten dokumentieren oder anhand seiner Gestik und Rufen bei Bedarf das Krankenpersonal informieren.

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Viacheslav Gromov von AITAD
Viacheslav Gromov ist Gründer und Geschäftsführer von Aitad.
© AITAD

Embedded-KI in Medizingeräten entlastet und unterstützt das Personal bei täglichen Aufgaben, verbessert den Umgang mit Patienten und ermöglicht verbesserte oder neuartige Hauptfunktionen, wie die genannte Programmanpassung. Die Technologie spielt vor allem in den drei folgenden Bereichen eine wichtige Rolle: Predictive/Preventive Maintenance, Nutzerinteraktion und funktionale Innovationen. Besonders erstaunlich dabei ist, dass es je nach Datenlage, Machine-Learning-Modellen und der Systemgröße sowie Volumen Lösungen in allen Größensegmenten gibt.

Was können diese »funktionalen Innovationen« sein?

Während bei Themen wie Predictive Maintenance einzelne Komponenten überwacht werden oder es bei der Nutzerinteraktion viel um Objekt- und Personenerkennung, Gesten und Sprache geht, sind die funktionalen Innovationen sehr anwendungsspezifisch: Hierbei geht es darum, dass Embedded-KI die Verbesserungsmöglichkeiten der Medizintechnik-Geräte adressiert. Dies kann eine automatisierte Zahnstatuserkennung durch Zahnreinigungsinstrumente oder eine Schnittkantenerkennung und Programmanpassung bei der Hochfrequenzchirurgie sein oder eine ganz neue Zusatzfunktion des Beatmungsgerätes. Merkmal solcher Innovationen ist also deren direkte Auswirkung auf die Produktevolution oder gar -disruption, also das Entstehen völlig neuer Produkte oder Services auf der Basis von KI.

Wie lassen sich Embedded-KI und Edge-AI bei Medizinanwendungen abgrenzen?

Der Kernunterschied ist die Verarbeitungstiefe vor Ort im Device respektive am Sensor. Nehmen Sie als Beispiel komplexe Objekterkennungen inklusive gesamter Vorverarbeitung und auch Ergebnisüberprüfung, wie man sie beispielsweise für die genannte Operationsfeldanpassung vieler Geräte braucht.

Bestückung im Produktionsprozess einer Prototypen-Platine, hier halb-automatisiert
Bestückung im Produktionsprozess einer Prototypen-Platine, hier halb-automatisiert.
© AITAD

Edge-AI ist im Wesentlichen eine rudimentäre Verarbeitung an der Netzwerkkante. Es wirkt zwar eine KI vor Ort, aber diese schärft oder schneidet zum Beispiel nur Objekte aus Bildern aus. Die Objekte selbst werden erst auf den größeren Zentralrecheneinheiten oder in der Cloud erkannt. Folglich braucht es große Datenmengen, die von der Netzwerkkante, also dem Edge-Node, übertragen werden müssen.

Embedded-KI dagegen fungiert als eine autarke Lösung. Der Großteil der Verarbeitungsschritte wird sicher und in Echtzeit direkt im Device realisiert. Das Gesamtergebnis liegt lokal vor. Das war früher so gar nicht möglich, da es weder die Technologie noch die entsprechend performanten und günstigen Halbleiter gab. Mit Embedded-KI ändert sich das. Die Technologie ist die nächste Stufe nach Edge-AI.

Das klingt vielversprechend. Wie kann aus einem existierenden Medizingerät in der Praxis ein Embedded-KI-fähiges Medical Device werden?

Indem die Hersteller sich beraten lassen, was an Embedded-KI in ihren Geräten möglich ist, Stichwort: Produktentwicklung oder -weiterentwicklung. Dabei empfehlen wir, sich durchaus Ideen außerhalb des Unternehmens zu holen. Viele Produktentwickler wissen heute noch gar nicht, was alles mit Embedded-KI möglich und umsetzbar ist. Externe Berater, die sich auf Embedded-KI spezialisiert haben, können die Produkte beispielsweise testen und dann Vorschläge unterbreiten, welche Embedded-KI mit welchem Nutzen für die Anwender zu welchen Kosten für den Hersteller realisierbar ist und vom Prototyp bis zur Serienreife begleiten.

Wir empfehlen hier, auf Individuallösungen zu setzen. Standardlösungen decken nie zu 100 Prozent ab, was benötigt wird. Jeder Hersteller, der aktuell auf Embedded-KI setzt, hat zudem einen USP, da die Technologie noch neu am Markt ist. Das sollte eine geschützte und individuelle Lösung sein, die kein Marktbegleiter einfach so verwenden kann.

Welche Kompetenzen und Aufwände sind bei MedTech-Herstellern erforderlich?
 
Die Herausforderung sind, die richtigen Daten zu sammeln, sie intelligent zu nutzen und die richtige Technologieanwendung. Embedded-KI erfordert bei der Entwicklung ein interdisziplinäres Team. Schließlich müssen Maschinenbauer für Befestigungen und Sensorplatzierungen, Hardwareentwickler für die Komponentenherstellung, Softwareentwickler für die Systemintegration sowie Datenexperten für die KI-Entwicklung zusammenarbeiten. Besondere Kompetenzanforderungen liegen vor allem bei KI- und Embedded-Fachkenntnissen. Sind die Ressourcen nicht ausreichend im Unternehmen vorhanden, empfiehlt es sich, einzelne Prozesse oder die gesamte Entwicklung auszulagern.

Messen und Testen von Soft- und Hardware in der Praxis, hier am Oszilloskop
Bild 2. Messen und Testen von Soft- und Hardware in der Praxis, hier am Oszilloskop.
© AITAD

Nach der erfolgten Entwicklung samt Serialisierung sind die Entwickler-Varianz und -Ressourcenbedarfe sowie die Gesamtkosten gering: Embedded-KI braucht im Gegensatz zu Cloud-Konzepten keine Backend-Pflege, Schnittstellen-Security-Updates und keine kontinuierliche Cloud-Miete.

Wie läuft eine Embedded-KI-Produktentwicklung ab und wie lange dauert es bis zur Serienreife?
 
Meistens kann man schon nach maximal sechs Monaten ein Proof-of-Concept mit dem ersten Prototyp abschließen. Der Embedded-KI-Prozess durchläuft bis hin zur Serienentwicklung die folgenden Stufen: Nach der Konzeptionierung heißt es Daten sammeln. Anhand der aufbereiteten und angereicherten Daten bauen Datenexperten ein Machine-Learning-Modell. Embedded-Software-Entwickler wandeln dieses in ausführbaren, hardwarenahen Code um, mitsamt allen Sensor- und Interface-Anforderungen.

Dieser Schritt erfordert eine hohe Kompetenz, da hier Standard-Tools nicht weiterführen. Bei diesem Entwicklungsschritt zeigt sich, wie die Endkomponente aufgrund der Modellgröße und des passenden Halbleiters aussehen wird. Die Embedded-Hardware wird hier also individuell mitentwickelt. Danach ist das System reif für die Praxistests. Zum Serienlaunch gehört der Zertifizierungsprozess des Gesamtprodukts, aber auch Umgebungs- und Lebensdauertests.

Sie sagen, es geht vor allem darum, die richtigen Daten zu sammeln. Was ist bei einem datengetriebenen Entwicklungsprozess anders?

Datengetriebene Entwicklungen begegnen uns nicht nur bei der KI, sie stellen mittlerweile eine unumgängliche Zeitwende durch Trends von (I)IoT, Smart Devices bis hin zu Blockchain oder Robotik dar. Reden wir von datengetriebenen Entwicklungsprozessen, dann geben bei jeder Produktneu- oder Weiterentwicklung die Daten Aufschluss über die endgültige Machbarkeit und Komplexität der Systemkomponenten. Da es sich hier um eine ergebnisoffene Vorgehensweise handelt, braucht es auch ein gewisses Umdenken im Produktdesign und beim -pflegeprozess. Wenn Entwickler sich darauf einlassen, werden sie meist von den Möglichkeiten und zusätzlichen Zusammenhängen oder Erkenntnissen positiv überrascht.

Gleichzeitig können sie bei Folgeprodukten mit geändertem Design die Daten von der Vorserie für die Weiterentwicklung mitnutzen. Es entsteht eine langfristige Datenstrategie, die man sich als Produkthersteller mit Updates oder kontinuierlichen Servicemodellen von seinen Kunden auch bezahlen lassen kann.

Worauf können sich Entwickler, Hersteller, Nutzer und Patienten mit Embedded-KI in den nächsten Jahren einstellen?

Mehr Verarbeitungs-Performance auf immer kleineren und günstigeren Halbleitern. Das wird die Zukunft. Befeuert von den aktuellen Forschungstrends mit Memristor-Arrays oder Spiking Neural Networks sowie dem adaptiven Lernen, sprich: einem selbstständigen KI-Weiterlernen im Feld. Embedded-KI wird mehr und mehr Daten verarbeiten können bei gleichzeitig zunehmender Analysetiefe. Damit wird die Trendlinie von der KI vor Ort und solcher auf großen Zentralrechnern oder auf der Cloud massiv verschoben.

Die gleiche Embedded-KI zur Sprachsteuerung könnte zum Beispiel eingesetzt werden, um Gefühlszustände respektive Psyche anhand von Stimmlage und Sprachklang besser einzuschätzen. Medizinischen Geräte in Arztpraxen, Krankenhaus und Operationssaal wird KI eine Intelligenz verleihen, dass sie mit dem Benutzer und Patienten auf funktionaler und kollaborativer Ebene interagieren. Sensorfusion wird eine immer größere Rolle spielen, indem die Embedded-KI anhand unterschiedlicher Sensoren Krankheiten erkennt oder bei Abläufen warnt. Mehr Daten und mehr Verarbeitung bedeuteten in diesem Fall auch oft mehr Erkenntnisse. (uh)

Über AITAD

Aitad ist ein deutscher Embedded-KI-Anbieter. Das Unternehmen befasst sich mit der Entwicklung und Testung von KI-Elektroniksystemen, insbesondere in Verbindung mit maschinellem Lernen im Industriekontext (v.a. Systemkomponenten). Als Entwicklungspartner übernimmt Aitad den kompletten Prozess vom Datensammeln über die Entwicklung bis hin zur Lieferung der Systemkomponenten. Dabei geht das in Offenburg beheimatete Unternehmen einen anderen Weg als viele Hersteller: Anstatt einer fertigen KI-Lösung wird für jeden Kunden ein individuelles System entwickelt.
Hierfür prüft das Unternehmen im ersten Schritt, wie Kundenprodukte vom KI-Einsatz profitieren, stellt die Vorteile und Möglichkeiten vor, entwickelt das System auf allen Ebenen, baut dank einer Prototyping-EMS-Strecke in-house einen Prototyp des neuen Systems auf Basis gesammelter Daten und steht bei der Serienanfertigung und Systempflege stets zur Seite. Dabei agiert sich Aitad als interdisziplinärer Full-Stack-Anbieter mit Bereichen Data Science, Maschinenbau sowie Embedded-Hard- und Software. Zudem forschen die Embedded-KI-Exprten in- und extern an zahlreichen algorithmischen und halbleitertechnischen Grundlagen der KI-Technologie.
www.aitad.de

 


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