Unterschenkel- und Trümmerfrakturen

Smarte Implantate lassen Knochen besser heilen

12. Dezember 2019, 10:30 Uhr | Universität des Saarlandes
Die Werner Siemens-Stiftung fördert die Forschungen von Prof. Tim Pohlemann mit acht Millionen Euro.
© Universität des Saarlandes/Oliver Dietze

Forschung | Ein neues Implantat soll bei Knochenbrüchen bereits ab der OP die Heilung überwachen und bei Fehlbelastung warnen. Das ist das Ziel einer Forschergruppe von Medizinern, Materialforschern, Ingenieuren und Informatikern der Universität des Saarlandes.

Knochenbrüche sind schmerzhaft und meist eine langwierige Sache. Gerade Unterschenkel- und Trümmerfrakturen machen den Betroffenen lange zu schaffen. »Nach der Operation, bei der die Bruchstücke mit einer Schiene verschraubt werden, wissen wir heute lange Zeit nur wenig über den Verlauf der Heilung«, erklärt Prof.Tim Pohlemann, Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie des Universitätsklinikums des Saarlandes. Ärzte können auch nicht aktiv eingreifen. Erst nach Wochen gibt ein Röntgenbild Einblick, ob der Knochen gut verheilt und ob sich neues Knochengewebe gebildet hat.

Zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen will das Team um Pohlemann die Therapie solch komplizierter Knochenbrüche »revolutionieren«. Dies soll den Patienten schneller wieder auf die Beine helfen und zugleich die Behandlungskosten senken. »Neben den Schmerzen und den massiven Einschränkungen, die ein solcher Bruch mit sich bringt, kann die Therapie im ungünstigen Fall schnell Kosten in sechsstelliger Höhe verursachen«, erklärt Pohlemann.

Implantat macht Krankengymnastik

Die Idee: Ein speziell auf die einzelnen Patienten zugeschnittenes Implantat soll nach der Operation ohne Weiteres automatisch Informationen darüber liefern, wie die Bruchstelle verheilt. Es soll selbst durch Bewegungen gegensteuern und somit aktiv die Knochenheilung positiv beeinflussen. »Wir haben in Vorstudien herausgefunden, dass Frakturen schneller heilen, wenn die Bruchstelle durch Bewegung stimuliert wird. Unsere Vision ist – salopp gesagt – ein Implantat, das Tag und Nacht die optimale Krankengymnastik macht und so den Knochen schneller und besser heilen lässt«, erklärt Tim Pohlemann.

Auch soll das Implantat warnen, wenn etwa der Knochen zu stark belastet wird. Das Team um Pohlemann arbeitet hierfür an der Universität des Saarlandes eng zusammen mit dem Ingenieur Prof. Stefan Diebels und dessen Arbeitsgruppe auf dem Gebiet der Technischen Mechanik, mit dem Informatiker Prof. Philipp Slusallek und seinem Team an Uni und am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) sowie mit den Spezialistinnen und Spezialisten für intelligente Materialsysteme um Professor Stefan Seelecke an Uni und Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA).

Erster Protoyp in fünf Jahren?

In spätestens fünf Jahren soll ein Implantat-Prototyp entwickelt sein. Hierzu kombinieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler modernste Materialtechnik, Künstliche Intelligenz und medizinisches Know-how. Unterschenkelfrakturen, als bekannt komplexe Verletzung, dienen als Versuchsfall. Bereits seit Langem arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, herauszufinden, wie genau sich nach einer Fraktur die Belastung beim Gehen auf die Heilung auswirkt. So erfassen sie mit Sensor-Einlegesohlen über lange Zeit bei jedem Schritt von Patientinnen und Patienten 60 verschiedene Parameter. In langen Versuchsreihen sammeln sie Daten von Knochen, die erst gebrochen und dann vielfältig belastet werden.

»Wenn wir wissen, wie die Lastverteilung im spezifischen Bruch sein wird, welche Kräfte hier wirken, können wir berechnen, wie das Implantat für die individuelle Frakturgeometrie aussehen muss, oder auch, wie viele Schrauben tatsächlich an welcher Stelle notwendig sind«, erläutert Diebels. Mit Methoden Künstlicher Intelligenz und maschinellen Lernens erstellen sie aus den so gewonnenen Daten Belastungsmuster, anhand derer sie Rückschlüsse auf Heilung oder Störungen ziehen können. »Ziel ist es, die individuelle Fraktur berechenbar zu machen und die optimale Therapie für jeden Patienten und jede Patientin zu ermöglichen«, Slusallek.

Seelecke und sein Team arbeiten daran, die Implantate aus dem Material Nickel-Titan, auch Nitinol genannt, herzustellen: Haarfeine Drähte aus dieser für den Körper ungefährlichen Legierung werden auch künstliche Muskeln genannt und können sich mithilfe elektrischer Signale exakt bewegen. »Von allen Antriebsmechanismen haben diese Muskeldrähte die höchste Energiedichte und können auf kleinem Raum kraftvolle Bewegungen ausführen«, erläutert Seelecke. (me)

Schlagworte: Forschung & Entwicklung, Knochenbruch, Implantat


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