Interview Medizinische Bildgebung

Ein KI-Werkzeugkasten für die Radiologie

21. Februar 2023, 12:44 Uhr | Ute Häußler
© Mathworks

Die Entwicklung von Algorithmen für die radiologische Bildgebung ist komplex, die Zertifizierung oft noch kompliziert. Im Interview zeigt Dr. Visa Suomi von MathWorks, wie Ingenieure und Medizintechnik-Unternehmen ihre Anwendungen in die klinische Praxis überführen.

Herr Dr. Suomi, welchen Status hat KI in der medizinischen Bildgebung aus Ihrer Sicht derzeit?

In der Radiologie wird KI heute hauptsächlich zur Automatisierung von Aufgaben eingesetzt, die viel manuelle Arbeit erfordern, beispielsweise bei der Bildgebung der Wirbelsäule oder der Lunge. Bei Tumoren müssen Ärzte die exakte Lage detektieren, die genaue Größe quantifizieren und auch deren Ausrichtung bestimmen – das ist viel Messaufwand. KI kann bei diesen Aufgaben helfen, indem sie die Berechnungen durchführt, die Tumore segmentiert, die Lokation hervorhebt und ein akkurates Feedback über die Größe des Tumors gibt.

Ein weiteres Beispiel, an dem wir gearbeitet haben, ist ein universitäres Projekt, bei dem KI eingesetzt wird, um zu erkennen, ob Schilddrüsenknoten auf Ultraschallbildern bösartig sind oder nicht. Wenn die radiologischen Bilder indizieren, dass ein Teil der Knoten bösartig sein könnte, kann es schwer sein, dies zu verifizieren, insbesondere, wenn der Radiologe noch nicht so erfahren ist. Die Yonsei University hat ein KI-Modell entwickelt, um Ärzten zu helfen, Schilddrüsenknoten zu quantifizieren und über Parameter eine Malignität eindeutig zu erkennen. Sie haben eine KI-basierte Webanwendung entwickelt und online gestellt; d. h. die Applikation wird auch genutzt, um jüngere Ärzte zu schulen. Die KI hilft zu bestimmen, welche Knötchen bösartig sind und welche nicht.

Was sind die derzeitigen Herausforderungen und Limitierungen von KI?

Eine der größten Herausforderungen sind die verfügbaren Daten. Algorithmen für die medizinische Bildgebung bzw. alle medizinischen Anwendungen erfordern immense Mengen an Trainingsdaten. Der Zugang zu diesen Daten ist in der Regel begrenzt. Unternehmen müssen also klinische Kooperationen eingehen, um Zugang zu großen Datenmengen zu erhalten. Und selbst wenn es ausreichend Daten gibt, sind diese Daten nicht immer gut kategorisiert und gekennzeichnet. Die Basisdaten für eine Klassifizierung sind aber ebenso nur eingeschränkt oder gar nicht öffentlich verfügbar, sondern befinden sich in geschützten Systemen, z. B. im Krankenhaus.

Es ist also eine Menge manueller Arbeit erforderlich, um Zugang zu den Daten zu erhalten und diese zu klassifizieren. Erst dann kann das Training starten. Das Bottleneck ist definitiv der Zugang und der Aufwand, die Daten für maschinelle Lernmodelle zu kennzeichnen. Das haben wir erkannt und an einem Produkt gearbeitet, das einen Teil dieses Problems lösen würde. Unsere Medical Imaging Toolbox soll den Aufwand reduzieren und das Labeln der medizinischen Bilddaten automatisieren. Unternehmen oder Ärzte können diese nutzen, um viele medizinische Daten mit halbautomatischen Algorithmen proaktiv zu kennzeichnen und diese dann später in der KI-Applikation einzusetzen.

Was wird KI in der medizinischen Bildgebung niemals leisten können?

Meiner Meinung nach kann KI niemals die Verantwortung für die finale Diagnose übernehmen, das macht immer das klinische Personal. KI wird also immer so eingesetzt werden, dass sie niemals die Kontrolle über Patienten hat, sondern nur die Ärzte unterstützt.

Ein anderer Fakt, der die Leistung aktueller KI-Anwendungen meiner Meinung nach sehr einschränkt und die weitere Verbreitung verhindert, sind die Patienten-Kohorten und die daraus resultierenden Daten, mit denen die KI trainiert wird. Hier gibt es ein großes Ungleichgewicht. KI benötigt eine Datenbasis aus allen Altersklassen, allen Geschlechtern und allen ethnischen Gruppen – ansonsten kann sie keine verlässlichen Aussagen über Patienten treffen, deren Typ in der Datenbasis nicht vorhanden war. Gerade in lebensbedrohenden Fällen ist eine diversifizierte Datenbasis essenziell, um eine akkurate KI-Performance zu gewährleisten.

Spitz formuliert sagen Sie, KI ist momentan rassistisch?

Richtig. Wenn die Datenbasis nicht alle Bevölkerungsgruppen einschließt, ist das ein großes Problem. Der Mix muss auch in den Trainingsdaten vorhanden sein, damit bzgl. der Diagnose alle Patienten gleich gut abgebildet werden.

Wie werden sich die KI-Technologie bzw. die Algorithmen in der medizinischen Bildgebung weiterentwickeln?

Es werden sich viel mehr Einsatzgebiete etablieren. Bisher konzen­trieren sich die KI-Anwendungen auf die Erkennung von bösartigen oder nicht bösartigen Tumoren oder auf die Segmentierung von Bildern. In Zukunft wird sie sich auf andere Bereiche aus­weiten. So hat die FDA vor Kurzem die Algorithmen von Phillips AI zugelassen, mit denen MRT-Bilder in computertomographische Bilder umgewandelt werden, was eine komplett andere
medizinische Bildgebungsmodalität ist. Wenn man MRT-Bilder in CT-Bilder umwandelt, könnten sowohl die Strahlenbelastung als auch die Anzahl an Untersuchungen reduziert werden. Diese neue Art von Anwendungen wird in Zukunft prominenter werden. Die 3D-Bildgebung wird mit KI wachsen.

Ein weiterer Aspekt ist die Erklärbarkeit von KI. Im klinischen Alltag ist es sehr wichtig zu wissen, aufgrund welcher Parameter und Indikationen Entscheidungen gefällt werden. Es wird gerade viel Forschung betrieben, wie die KI-Interpretation zustande kommt. Was sind die Entscheidungsmerkmale, wenn ein Tumor als bösartig klassifiziert wird? Ist es die Größe? Ist es der Kontrast? Ist es die Textur? Nur mit diesen Parametern kann einem Arzt die Diagnose erklärt werden. Die Frage, welche Daten für die KI-Entscheidung herangezogen werden, wird wichtiger werden. Die Blackbox KI wird damit transparent, was auch die Angst davor nimmt. KI wird meiner Meinung nach nie einen erfahrenen Radiologen ersetzen, aber sie kann viele Extra-Informationen liefern.

Wie kann und wird KI die klinischen Arbeitsabläufe verändern?

Manuelle Prozesse werden mit KI schneller oder automatisiert ablaufen. Das spart den Radiologen in erster Linie Zeit, sodass mehr Patienten untersucht werden können. In der Vergangenheit begutachtete und evaluierte der Radiologe die Scans am Bildschirm, das dauert ca. 15 Minuten. Wenn KI einen Tumor innerhalb weniger Minuten automatisch segmentiert, seine Lage bewertet und andere Parameter misst, kann die Entscheidung schneller gefällt werden – der Patientendurchlauf wird durch die Automatisierung signifikant gesteigert.

In der Zukunft werden zudem viele Aufgaben voll automatisiert sein. Bei Covid-19 konnten wir sehen, dass selbst wenn die KI nicht direkt auf diese spezifische Diagnose trainiert war, sie meist eine korrekte Einschätzung gab, ob ein Patient positiv war oder nicht. Die KI-Daten können also die Dringlichkeit und Priorisierung im klinischen Workflow neu einschätzen und auch Empfehlungen abgeben, wie und ob die Scans weiter interpretiert werden müssen. Die KI wird eine Skalierung des Gesundheits­wesens ermöglichen.

Vor welchen Hürden stehen Medizintechnik-Unternehmen, die KI-Anwendungen in die Praxis umsetzen wollen?

Neben dem Datenproblem ist die Verifikation, also die Validierung der KI als Medizinprodukt durch die FDA oder MDR, eine riesige Herausforderung. Es gibt einige Leitfäden, aber die wurden erst kürzlich veröffentlicht. Natürlich wurden einige KI-Anwendungen bereits genehmigt, aber es ist für die Industrie immer noch nicht ganz klar, wie der Zertifizierungsprozess genau aussieht. Das gilt speziell für Online-KI-Modelle, die sich ständig weiterentwickeln, wenn neue Daten verfügbar werden. Die bisher zertifizierten Anwendungen basieren auf statischen Modellen, welche trainiert, validiert und nach der Zertifizierung auf den Markt gebracht werden. Das Modell verändert sich auch mit neuen Daten danach nicht mehr. In der Zukunft wird es wichtig sein, und die FDA erprobt das bereits, den Trainingsprozess und nicht das KI-Modell an sich zu zertifizieren. Damit können Online-KIs mit jedem neuen Datensatz weiter lernen, sich entwickeln, sich verbessern und sozusagen selbst updaten.  

Was sind Ihre Empfehlungen für MedTech-Entwickler bezüglich der Zertifizierung? Wie hilft MathWorks seinen Kunden dabei?

Bisher hatten auch wir uns auf die statischen KI-Modelle fokussiert. In unserem Kundenleitfaden weisen wir natürlich auf die Richtlinien der FDA und MDR hin. Aber wenn KI-Software als Medizinprodukt zum Einsatz kommt, müssen die Richtlinien dem Software-Entwicklungszyklus folgen. Die Entwicklung medizinischer Software – egal ob KI-basiert oder nicht – beginnt immer bei den genauen Anforderungen. Was brauchen die Stakeholder der Anwendung? Was sind die kritischen Bedingungen? Worauf basiert das Geschäftsmodell und was brauchen die Ingenieure?

Mit diesen Ausgangsfragen lassen sich die Anforderungen an die Software definieren. Das SW-Modell baut dann darauf auf und Entwickler müssen alle Richtlinien in diesem Prozess überprüfen und überprüfbar gestalten. Danach kann die Validierung des
Modells beginnen. Anschließend können MedTech-Firmen ihre klinische Evaluation starten. Dort muss das Modell von erfahrenen Praktikern getestet werden. Zieht das Modell auf Basis der Daten die gleichen Schlussfolgerungen wie das medizinische Fach­personal? Ist dieser Prozess abgeschlossen, kann das Modell nach den FDA- und MDR-Richtlinien erneut überprüft und am Ende des Prozesses zur Zertifizierung eingereicht werden. Bei MathWorks fokussieren wir uns auf den Teil der Software-Entwicklungsprozess-Verifizierung, also IEC-62304-Anforderungen.

Wie steht es um die Entwicklung eingebetteter Echtzeit-KI?

Die meisten KI-Services in der Radiologie brauchen keine Echtzeitverarbeitung. Die Berechnungen können auf einer Cloud-Plattform oder auch in einem angeschlossenen Edge-Gerät laufen, müssen aber nicht direkt in einem CT- oder MRT-Scanner eingebettet sein. Die Plattform kann ihre Ergebnisse dann wieder an das Gerät bzw. den angeschlossenen Arbeitsplatz zurückspielen. Das macht die Entwicklung sowie die Evolution der Modelle deutlich flexibler.

Woran arbeiten Sie bei MathWorks gerade, um KI in der medizinischen Bildgebung weiterzuentwickeln?

Wir haben die Arbeit an Tools für die medizinische Bildgebung dezidiert vor fast vier Jahren begonnen. Das Ergebnis, die Medical Imaging Toolbox, wurde mit dem letzten MATLAB Release in R2022b ausgeliefert. Ein großer Teil davon umfasst das auto­matisierte Daten-Labeling, um Zeit zu sparen und gute Daten für das KI-Training zur Verfügung zu stellen.

Wir sind momentan sehr an der Erklärbarkeit von KI interessiert und beobachten auch, wie andere Unternehmen und Wissenschaftler diesen Aspekt angehen. Wie können KI-Modelle nachvollziehbar werden? Das ist für uns von großem Interesse und wird als nächster Schritt ins Auge gefasst. Wir werden uns hier am Vorgehen der FDA orientieren. Wir wollen für erklärbare KI sicherstellen, dass wir darauf ausgerichtet sind, Entwickler entsprechend zu unterstützen.

Wir haben über die Schilddrüsendiagnostik gesprochen. Für welche weiteren Indikationen arbeiten Sie mit KI?

Der Bereich der CT-Bildgebung ist für uns interessant – dort werden die Patienten einer sehr hohen Strahlenbelastung ausgesetzt, um eine hohe Bildqualität und Diagnosesicherheit zu erhalten. Hier braucht es neue Ideen, um den Kontrast und die Scan-Qualität zu verbessern. Wir haben dazu mit Forschenden der Ritsumeikan University zusammengearbeitet. In Japan wollten die Forscher niedrig aufgelöste CT-Bilder erstellen, um die Strahlendosis gering zu halten. Die Qualität der daraus resultierenden Bilder war aber unzureichend. KI wurde dann dazu benutzt, diese niedrig aufgelösten Bilder wie hochauflösende Scans aussehen zu lassen. Deep Learning-Netzwerke trainierten das KI-Modell für diesen Ansatz sehr erfolgreich. Die Patienten erhalten also eine niedrigere Strahlendosis, dank KI aber ebenso hochqualitative CT-Bilder.

Daneben hatte ich bereits die 3D-Bildgebung erwähnt, die zu­künftig eine wesentliche Rolle in der Radiologie einnehmen wird. CT-, MRT-, aber auch Ultraschall-Scans können mithilfe künstlicher Intelligenz 3D-Volumen-Bilder ausgeben anstatt wie bisher nur einen Draufblick Schicht per Schicht. Die Diagnostik wird damit viel einfacher und genauer. Künstliche Intelligenz wird hier eine tragende Rolle einnehmen. Wir arbeiten bereits in der aktuellen Medical Imaging Toolbox mit vielen Trainingsdaten für 3D-Imaging. Die automatisierte Kennzeichnung von 3D-Volumina ist einer der großen Vorteile dieser Herangehensweise. Am Ende geht es um die Visualisierung: für den Arzt, aber auch den
Patienten – beide können so bildlich besser verstehen, was im Körper gerade los ist. (uh)

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