Digitaler Zwilling

Schick den Avatar zum Arzt

12. Juli 2019, 16:30 Uhr | Empa
Digitaler Zwilling für personalisierte Medizin
© Empa

Forscher entwickeln einen digitalen Zwilling, der massgeschneiderte Therapien ermöglichen soll. Ziel ist es, diesen Avatar anzeigen zu lassen, wie ein Schmerzpatient oder ein Diabetiker individuell behandelt werden muss.

Der Mensch ist erstaunlich individuell. Bei den Essgewohnheiten oder dem Filmgeschmack scheiden sich die Geister. Beim Kranksein aber, könnte man meinen, sind wir alle gleich. Es gibt die eine Tablette gegen Kopfschmerz für jeden oder die Spritze mit Insulin für alle Diabetiker. Dass die Rechnung so nicht aufgeht, weiß die moderne Medizin seit längerem und hat den Begriff der personalisierten Medizin geprägt. Je nach Alter, Lebensstil oder genetischem Interieur reagiert der Mensch ganz unterschiedlich auf bestimmte Therapien. Und da es sich beim Menschen um ein lebendes System handelt, das seine Gewohnheiten ändert, in die Ferien fährt oder plötzlich einen Schnupfen kriegt, müssen medizinische Behandlungen enorm flexibel sein.

Hier kommt die Idee eines virtuellen Doppelgängers ins Spiel, der in Echtzeit mit den physiologischen Daten des realen Menschen gefüttert wird. Forscher von der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) entwickeln aber bereits jetzt einen digitalen Zwilling der Haut, der eine optimale Behandlung von Schmerzpatienten und Diabetikern ermöglichen soll. »Mit einem In-silico-Doppelgänger können wir präziser auf den individuellen Patienten eingehen«, sagt Thijs Defraeye von der Empa-Abteilung Biomimetic Membranes and Textiles in St. Gallen.

Defraeye und sein Team streben an, für die Entwicklung der digitalen Zwillinge zwei  Forschungsfelder verschmelzen zu lassen: die nicht-invasive Medikamentengabe über die Haut mit transdermalen Medikamentenpflastern und die Steuerung und Vorhersage des Therapieverlaufs mittels Echtzeit-Modellierung. Dies sei insofern besonders elegant, da die Haut als unser größtes Organ eine geeignete und große Fläche bietet, um Substanzen bis zu einer gewissen Molekülgrösse schmerzfrei in den Körper zu schleusen. Die Dosierung ist bei herkömmlichen therapeutischen Pflastern jedoch kaum steuerbar, da beispielsweise Anteile des Wirkstoffs selbst dann noch aus den Hautschichten in den Körper gelangen, wenn das Pflaster längst entfernt ist. Aktuelle Systeme, die eine Rückmeldung, etwa durch Messungen des Medikaments im Blut, einsetzen, können lediglich im Nachhinein beurteilen, ob möglicherweise zu hoch oder zu tief dosiert wurde. Vorhersagen über den Medikamentenbedarf kann das konventionelle Pflaster jedoch keine liefern.

Den Zwilling mit Daten füttern

Ein digitaler Zwilling, der mit Daten von nicht-invasiven, auf der Haut angebrachten Sensorsystemen gefüttert wird, erlaubt hingegen die exakte und personalisierte Dosierung der Wirkstoffe. Die mathematischen Modellierungen des digitalen Doppelgängers berücksichtigen auch die Hauteigenschaften des Patienten. Denn je nachdem, an welcher Körperstelle das Pflaster angebracht wird, oder ob das Medikament bei einem sonnengegerbten Sportler, einer älteren Dame mit papierner Alabasterhaut oder einem zarten Frühchen appliziert wird, verläuft die Wirkstoffaufnahme unterschiedlich.

So lässt sich die exakte Dosis des Medikaments mit einer massgeschneiderten und zeitabhängigen Ausstossrate aus dem Pflaster steuern, denn das intelligente System blickt nicht rückwärts, sondern in die Zukunft. »Als zusätzlichen positiven Effekt versprechen wir uns, die Dosierung – etwa von Schmerzmitteln – so weit senken zu können, dass die Patienten gerade optimal versorgt sind«, so Defraeye.

In anderen Forschungsbereichen sind virtuelle Repräsentanten spätestens seit der Appollo-13-Mission der NASA ein Thema. Damals nutzte man »Doppelgänger« in Simulationen, um die Besatzung des beschädigten Raumschiffs sicher zur Erde zu bringen. Heute existieren digitale Zwillinge etwa für Flugzeugdesign, Fahrzeugbau oder im Gebäudeunterhalt.

»In der Medizin träumt man von kompletten In-silico-Doppelgängern, die vorhersagen, wie ein Mensch altert oder wie sich ein künstliches Gelenk im Körper abnutzt«, sagt Defraeye. Doch die Realität ist noch nicht so weit. Daher sei das System aus intelligenten Pflastern und Echtzeit-Simulationen ein Schritt in einen noch wenig erforschten Bereich mit enormem Potenzial, so der Empa-Forscher. Gleichzeitig komme man mit dem personalisierten Digital Twin für die transdermale Medikamentenabgabe dem menschlichen Avatar ein Stück näher. (me)


Lesen Sie mehr zum Thema


Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!

Weitere Artikel zu EMPA St. Gallen