Start-up neomento

Virtuelle Therapie gegen reale Ängste

18. Juli 2022, 11:11 Uhr | Dr. Marcus Neitzert, DZNE
neomento, ein Startup des DZNE, entwickelt virtuelle Szenarien für die Behandlung sozialer Phobien.
© DZNE

Immersive Ángstbegegnung: Die neomento GmbH entwickelt Virtual-Reality-Szenarien für die Behandlung sozialer Phobien.

Soziale Phobien sind psychische Störungen, die bei Begegnungen und im Zusammenspiel zwischen Menschen auftreten. Jetzt will ein junges Start-Up mit einer Technologie aus der Demenzforschung konventionelle Verhaltenstherapien mit Virtual Reality erweitern - die immersiven Szenarien sind einfacher umzusetzen und besser auf den jeweiligen Patienten anpassbar.

Prof. Thomas Wolbers erforscht mit Hilfe von Virtual Reality (VR) wie sich Menschen räumlich orientieren und inwiefern Orientierungsstörungen auf eine Demenz hinweisen können. »VR eignet sich allerdings nicht nur für die Demenzforschung, sondern auch für die Therapie psychischer Störungen, insbesondere bei Symptomen, die in sozialen Kontexten auftreten«, so der Neurowissenschaftler. Auf der Grundlage des Know-hows seiner Forschungsgruppe, die am DZNE-Standort Magdeburg beheimatet ist, entstand 2020 die neomento GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Berlin entwickelt – für die Therapie sozialer Phobien –computergenerierte, realitätsnahe Szenarien: Es handelt sich beispielsweise um Vortragssituationen oder Begegnungen auf der Straße, bei denen nach dem Weg gefragt wird.

Das VR-System von neomento ist als Medizinprodukt zugelassen und wird in Kooperation mit dem DZNE weiterentwickelt und vermarktet, es soll in psychotherapeutische Praxen und Kliniken zum Einsatz kommen und dort die Versorgung verbessern.

Virtuelles Hilfsmittel für die Therapie

Personen mit sozialer Phobie werden in Situationen, in denen sie anderen Menschen begegnen, oft von Ängsten oder Selbstzweifeln geplagt: So kann beispielsweise in der Öffentlichkeit zu reden, Fremde anzusprechen oder selbst das Fahren in der U-Bahn erheblichen Stress verursachen, negative Gefühle auslösen und sie daran hindern, alltägliche Situationen zu bewältigen. »Die Betroffenen versuchen, solchen Geschehnissen aus dem Weg zu gehen. Diese Vermeidungsstrategie kann sie beruflich und privat massiv beeinträchtigen und sich letztlich auf ihren gesamten Alltag negativ auswirken«, sagt Wolbers.

In der virtuellen Umgebungvon neomento können Patientinnen und Patienten – unterstützt von einer therapeutischen Fachkraft – lernen, mit solchen Ereignissen besser umzugehen. »Mit unserem System stellen wir Therapeuten und Patienten ein Instrument zur Verfügung, das sie beim Erreichen ihrer Therapieziele effektiv unterstützt. Wirksamkeit und Nutzen der VR-Therapie sind wissenschaftlich erwiesen. In den Leitlinien zur Behandlung von Angststörungen wird die VR-Therapie explizit empfohlen. Noch ist diese Therapieform aber wenig verbreitet, da die benötigte Technologie erst seit wenigen Jahren marktfähig ist«, so Wolbers.

Immersive Schauplätze

neomento hat ein Spektrum von Szenarien entwickelt, die Situationen in Gebäuden, im öffentlichen Nahverkehr oder auch im Freien nachbilden. In diesen virtuellen Umgebungen können Betroffene gezielt Situationen ausgesetzt werden, die sie als sehr unangenehm empfinden. »Die Patienten erleben das virtuelle Geschehen als äußert real. Durch die Konfrontation lernen sie, ihre Ängste, Gedanken und Verhalten besser an die jeweiligen Situationen anzupassen und gewinnen so wieder neues Selbstvertrauen«, sagt Wolbers. Eine solche Therapie müsste sonst etwa in Rollenspielen nachgestellt werden, was Personal und erheblichen organisatorischen Aufwand erfordert. Daher müssen Menschen mit einer sozialen Phobie oft lange auf einen Therapieplatz warten. »Mit Virtual Reality kann man viele Situationen vergleichsweise einfach simulieren und flexibel an die jeweiligen Bedürfnisse anpassen. Damit kann man die Therapie bedarfsgerecht gestalten, zugleich lassen sich Aufwand und Kosten reduzieren«, so Wolbers.

Interaktives Geschehen und Sensorik

Bei dem VR-System von neomento steuert eine therapeutische Fachperson die virtuellen Geschehnisse am Computer. Das Unternehmen entwickelt außerdem Möglichkeiten, um Stresssignale auswerten – beispielsweise auf Grundlage der Pulsfrequenz oder Hautleitfähigkeit. »Diese Daten werden vom System fortwährend protokolliert. Darüber lässt sich der Stresspegel bestimmen und objektiv beurteilen, ob eine Behandlung anschlägt. In der konventionellen Verhaltenstherapie ist es meist schwierig, solche Parameter zu erfassen«, sagt Wolbers. Zudem sind die Szenarien dynamisch und interaktiv. Es lässt sich zum Beispiel einstellen, dass in einer Seminarsituation ein virtueller Zuhörer sich meldet und Fragen stellt. Die Patientin beziehungsweise der Patient hört diese Fragen über Kopfhörer und muss sich dann mit der Situation auseinandersetzen.

Weitere Anwendungen in der Entwicklung

»Das VR-System bietet zahlreiche interaktive Szenarien, die Visualisierung ist sehr realistisch, und wir haben die Möglichkeit, körperliche Reaktionen zu erfassen. In dieser Kombination gibt es derzeit wohl kaum vergleichbare Hilfsmittel für die Behandlung sozialer Phobien«, so Wolbers. Und neomento möchte sein Portfolio erweitern. »Depression, posttraumatische Belastungsstörungen und Alkoholsucht sehen wir als weitere Anwendungsgebiete. Auch hier sind soziale Interaktionen von Bedeutung. Solche Situationen lebensnah nachbilden zu können, ist ein zentrales Merkmal unseres Systems. Gemeinsam mit klinischen Partnern arbeiten wir bereits an entsprechenden Szenarien.« (uh)


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