EU-MDR

BVMed zieht kritische Bilanz

6. September 2021, 7:42 Uhr | BVMed
Dr. Marc-Pierre Möll, BVMed-Geschäftsführer
© BVMed/D. Ramazani

Möll: »Es droht ein gewaltiger Zertifikatsstau«

Auch 100 Tage nach Geltungsbeginn der EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) am 26. Mai 2021 gilt nach Ansicht des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed): Die Medizintechnik-Branche ist bereit, das System ist es nicht. »Noch immer gibt es einen dramatischen Kapazitätsengpass bei den Benannten Stellen. Es droht ein gewaltiger Zertifikatsstau in den nächsten Jahren aufgrund der knappen Ressourcen«, sagt BVMed-Geschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll.

Aufgrund der Engpässe und gestiegenen bürokratischen Aufwände drohen viele Produkte vom Markt zu verschwinden – zum Nachteil der Patient:innenversorgung, wie Kinderchirurgen oder Orthopäd:innen bereits jetzt feststellen. Zudem kommen Innovationen zum Erliegen, da Forschungsabteilungen aktuell auf MDR-Regularien fokussieren müssen. »Wir brauchen hier dringend mehr Ressourcen für Zertifizierungsprozesse und Lösungen, vor allem für bewährte Bestands- und Nischenprodukte«, so Möll.

Der Handlunsdruck wächst

Neben den Kapazitätsengpässen und der noch immer zu geringen Anzahl an Benannten Stellen (aktuell 23 statt vormals 58) sieht der BVMed zahlreiche weitere Baustellen im MDR-System: Die Datenbank Eudamed als geplantes digitales Rückgrat verzögert sich weiter. Auf nationaler Ebene werden immer mehr Sonderwege etabliert, die für die international ausgerichteten MedTech-Unternehmen eine weitere Hürde darstellen. Zudem gibt es in der Praxis immer häufiger das Problem einer strengen Auslegung der MDR über rechtlich nicht bindende, aber »zwingend» anzuwendende Leitfäden, die zum Teil noch nicht einmal veröffentlicht sind.

»Die Lage spitzt sich zu, der Handlungsdruck wächst. Wir müssen Benannte Stellen schneller notifizieren, Remote Audits zulassen, die Übergangsfrist für Altzertifikate verlängern sowie Lösungen für Bestands- und Nischenprodukte etablieren», fordert Möll. Die neue Bundesregierung müsse dieses Thema schnell angehen. Die Branche und der Verband »stehen für ein Spitzengespräche auf Bundes- und Länderebene zur Verfügung».

Der BVMed sieht unter anderem folgende Lösungsansätze:

  • Benannte Stellen müssen in einer konzertierten Aktion aller beteiligten Behörden schneller notifiziert werden. Alle Scopes (Fachspektren) müssen ausreichend abgedeckt sein. Es müssen genügend Ressourcen in den Benannten Stellen vorhanden sein. Für Hersteller, die nachweislich keine Benannte Stelle finden, müssen Lösungen etabliert werden.
  • Die Übergangsphase und die Laufzeit der Zertifikate müssen verlängert werden, um den abzusehenden Engpass im Jahr 2024 zu entzerren.
  • Für bewährte Bestandsprodukte müssen pragmatische Lösungen beispielsweise über das Instrument der »Anerkennung klinischer Praxis« gefunden werden.
  • Für »Orphan Devices“ (Nischenprodukte) muss die Europäische Kommission Ausnahmeregelungen nach dem US-Vorbild der »Humanitarian Device Exemption« sowie der »Orphan Drug«-Regelungen in Europa schaffen.
  • Für KMU sollten spezielle Förderprogramme beispielsweise zur Unterstützung von klinischen Studien aufgelegt werden. Diese Förderprogramme dürfen sich nicht nur auf Neuentwicklungen und Innovationen beschränken, sondern müssen Bestandsprodukte einschließen.
  • Für die Marktbeobachtung benötigen wir ein agiles und digitales »Post-Market-Surveillance«-System, um die Patient:innensicherheit weiterhin zu gewährleisten. Dabei muss das gesamte Gesundheitssystem eingebunden werden: Fachgesellschaften, Krankenhäuser, Krankenkassen.

Der BVMed steht mit seiner kritischen Meinung nicht allein da. Auch der Industrieverband Spectaris kommt zu einem ernüchternden Zwischenfazit.  »Ohne erheblichen und in einigen Fällen unverhältnismäßigen Aufwand für die Unternehmen sind die neuen Regelungen nicht zu stemmen«, sagt Dr. Martin Leonhard, Vorsitzender der Medizintechnik bei Spectaris. (me)


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