Pflegenotstand

In aller Feindschaft

8. Juni 2021, 7:30 Uhr | Melanie Ehrhardt
Melanie Ehrhardt, Redakteurin medical design
© Weka

Das Editorial der medical design 2/2021

Wer mal echte Fantasy gucken möchte, sollte sich unbedingt die ARD-Serie In aller Freundschaft auf die TV-Agenda schreiben. Seit 1998 vermittelt das medizinische Personal aus der Sachsenklinik den Eindruck, der Job im Krankenhaus ist auch nichts weiter als ein 9-to-5-Bürojob. Und pünktlich zum Feierabend gibt es das Happy End – für alle Beteiligten gleichermaßen. Während die Pfleger und Pflegerinnen in der Mutterserie nur Randfiguren sind, kommen sie im Ableger In aller Freundschaft –  Die Krankenschwestern ganz groß raus. Doch auch hier scheint die Work-Life-Balance zu stimmen.

Dass viele Pfleger und Pflegerinnen weder Life noch Balance neben der Arbeit haben, ist spätestens seit dem 31. März 2021 zumindest einem breiten Publikum bekannt. In einer Sondersendung zeigte Pro 7, was es heißt, heute in einem Pflegeberuf zu arbeiten. Das ging weit über die übliche Sendezeit einer gängigen Fernsehdokumentation hinaus. Ganze sieben Stunde konnten die Zuschauer und Zuschauerinnen bei der Schicht der Pflegerin Meike Ista im Knochenmark- und Transplantationszentrum der Uniklinik Münster dabei sein. 

Parallel wurden Pflegerinnen und Pfleger verschiedenster Kliniken und Heime eingeblendet. Sie erzählten von Kollegen, die 23 Tage am Stück ohne Pause arbeiten, von anderen, die aussteigen, weil sie nicht mehr können. Von der Erschöpfung und vom Frust. Aber auch davon, dass sie den Beruf nicht tauschen wollen würden, jedoch die Bedingungen.

Pflege ist ein Thema, das uns alle betrifft, mitten aus dem Leben, und dennoch zu oft ganz am Rand der allgemeinen Wahrnehmung. Viele Themen im Leben bekommen erst dann den Stellenwert, den sie verdient haben, wenn man als Mensch die Gelegenheit bekommt sich in ein Leben hineinzuversetzen, das nicht zwangsläufig das eigene ist.Das funktioniert aber auch nur, wenn jemand bereit ist, seine Welt zu öffnen und mit Geduld und Beharrlichkeit vielleicht auch schon zum wiederholten Mal zu sagen, was es braucht, damit sich was zum Guten ändert. Das ist #NichtSelbstverständlich.

Aber worum geht es dabei am Ende tatsächlich? Um Entertainment im klassischen Sinn sicherlich nicht. Es geht vor allem um die Politik, die sich seit Jahren nicht sonderlich für die Belange des Pflegepersonals einsetzt. Der Notstand sowie seine Ursachen – demografischer Wandel, schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Gehälter – gehörten schon vor der Pandemie zu den dringlichsten Problemen. »Corona ist nicht schuld daran. Corona ist das Brennglas, das alles in den Fokus gerückt hat«, so eine der Pflegerinnen. 

Wie viele Menschen die Sendung bewegte, wurde auch auf Twitter deutlich. Unter dem Hashtag #Nichtselbstverständlich äußerten viele sowohl ihre Fassungslosigkeit als auch ihre Solidarität. Das ist menschlich, ändert aber genauso wenig wie klatschen auf dem Balkon.

Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schien zumindest von der Sendung gehört zu haben. Er bezog direkt einen Tag nach der Ausstrahlung bei einer Pressekonferenz Stellung: »Damit nach dieser schweren Phase der Pandemie viele in dem Beruf bleiben und idealerweise zurückkehren wollen, werden wir zügig in Gesprächen mit den Pflegeverbänden weiter darüber beraten, wie wir auch dafür die Arbeitsbedingungen noch weiter verbessern können. Pflegerinnen und Pfleger verdienen unseren Respekt, unser Dankeschön, aber vor allem bessere Arbeitsbedingungen.« Es sei gut, dass die Pflege jetzt in der Primetime läuft. Noch besser wäre, der Pflegenotstand stünde weiter oben auf der Agenda des Ministers. Aber auch das ist derzeit wohl #Nichtselbstverständlich.

Anmerkung: Dieser Text wurde zuerst in der Printausgabe der medical design 2/2021 vom 27. April 2021 veröffentlicht. Hier geht's zum kostenfreien ePaper.


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