Expertenblick auf die Medizinelektronik

Aus der Glaskugel in die Praxis

23. September 2022, 13:30 Uhr | Ute Häußler
© Pixabay

Elektronik und Digitalisierung transformieren die Medizintechnik in einem nie gekannten Tempo. Wir haben 14 Branchen-Experten zu den Top-Trends gefragt: Welche Technologien werden die MedTech-Entwicklung in den nächsten fünf bis zehn Jahren prägen?

Vernetzte Medizingeräte sind heute fester Bestandteil der modernen Diagnostik und Therapie und ohne digitale Elektrotechnik nicht denkbar. Trotz des Aufstiegs des Internets und des immensen digitalen Fortschritts in den letzten 20 Jahren ist das offene Potenzial der digitalen Medizin noch riesig, viele der Technologien wie KI, Cloud-Dienste und das IomT stehen noch am Anfang ihres Weges.

Doch wie sehen die Medizingeräte und -anwendungen von morgen aus? Ein Blick in die Glaskugel ist ungenau und schwierig, wir haben deshalb 14 Medizintechnik-Experten nach der nahen – und damit halbwegs einschätzbaren – Zukunft befragt: Welche Technologien werden die Medizinelektronik der nächsten Dekade formen?

Medizintechnik Trends KI Künstliche Intelligenz Umfrage Studie Digitalisierung Digital Health Vision
© Nvidia

KI, KI und nochmals KI

»Seit Anbeginn der Zeit basieren medizinische Fortschritte auf Beobachtung und Entdeckung,« sagt Mona Flores, Leiterin der weltweiten Medizin-KI bei Nvidia. Föderiertes Lernen und Analytik sind für die Kalifornierin der Schlüssel zur Gestaltung der zukünftigen Medizintechnik mit robusten KI-Modellen.

Die Macht der Daten wird durch den sich ausweitenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz weiter steigen. Jeder der befragten Branchenkenner sieht KI als den großen Gamechanger für Digital Health in Geräten und Anwendungen. 

Die Macht der Daten wird durch den sich ausweitenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz weiter steigen. Jeder der befragten Branchenkenner sieht KI als den großen Gamechanger für Digital Health in Geräten und Anwendungen.
© ODU

»In den nächsten Jahren wird uns die KI in der Medizin begleiten. Die komplexe Vernetzung der Geräte im OP ist eine der wichtigsten Zukunftsmärkte in der Medizintechnik«, sagt Matthias Wuttke, BD Manager Medical bei ODU. »Desweiteren wird das IomT – das Internet of medical Things – das Auswerten von Patientendaten und vor allem das daraus resultierende ‚Schlüsse ziehen‘ für die Behandlung essenziell. Telemedizin wird künftig Patienten aus der Ferne kontrollieren und Daten abfassen,« so der Branchenexperte.  Stephan Meyer-Loges, Leiter Produktmanagement bei Seco, sieht KI und das IomT ebenfalls als die größten Wachstumsmärkte und ergänzt: »Gleichzeitig gewinnt die zentrale Umsetzung von Prozessen in der Cloud an Bedeutung, vor allem in der Telemedizin. Die Kombination aus Edge-KI und zentraler Cloud-Auswertung wird viele Medizin-Prozesse (vor)automatisieren und beschleunigen.«

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© Siemens Healthineers

Für Arthur Kaindl, Leiter Magnetresonanztomographie bei Siemens Healthineers, ist die Künstliche Intelligenz auch in den nächsten Jahren sehr vielversprechend und revolutioniert schon heute die Gesundheitsversorgung und insbesondere die Radiologie. Der MR-Spezialist prognostiziert KI im Gesundheitswesen – wenn diese mit der menschlichen Erfahrung kombiniert wird – ein riesiges Potenzial. Sein Philips-Kollege Michael Heider pflichtet bei: »Algorithmen können suspekte Läsionen 24/7 in konstant hoher Qualität detektieren, charakterisieren und quantifizieren. Ermüdungsbedingte Perzeptions- und Interpretationsfehler haben keine Chance. Das verspricht Radiologen vor allem bei monotonen Routineaufgaben Entlastung und schafft Freiräume für anspruchsvolle, nicht delegierbare Tätigkeiten.«

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© Philips

Für den Diagnostik-Experten wird mithilfe von KI »die Entwicklung weggehen von der rein visuellen Bildbetrachtung hin zur – Stichwort Radiomics – Analyse quantitativer Bildcharakteristika und deren statistischer Korrelation mit genetischen, laborchemischen, histologischen und klinischen Daten«. Heiders Aussage nach eröffnen sich damit »ganz neue Perspektiven für die Diagnostik, die Gestaltung personalisierter Therapien und die Vorhersage des Behandlungserfolges.«

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© Würth eiSos

Alexander Gerfer, CTO von Würth eiSos, sieht KI ebenfalls jetzt schon als Gamechanger und weiteren MedTech-Treiber: »Künstliche Intelligenz wird individualisierte Therapien ermöglichen. Das gilt beispielsweise für einen auf Patienten abgestimmten mRNA-Impfstoff gegen metastasierende Tumore. Oder aber die Fortentwicklung von Prothesen, die wir dann über unsere Hirnströme aktiv steuern können.«

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© Traco

Florian Haas, Vice President Produkte & Digital bei Traco Power, schließt sich zum Thema KI nahtlos an und sieht eine weitere große Veränderung auf die MedTech-Entwicklung zukommen: »Die MedTech-Ingenieure werden immer stärker gefordert, noch kompakter zu bauen und zu programmieren; neben biokompatiblen Materialien braucht jeder Entwickler dazu mehr als heute ein tiefes Verständnis der jeweiligen Krankheitsbilder sowie der entsprechenden Normen und Sicherheitsanforderungen.«

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© Keysight

Auch Keysight-Applikationsingenieur Brad Jolly nennt KI und IomT als neue Möglichkeiten für die medizinische Grundlagenforschung, die Produktentwicklung und die Erkennung, Diagnose und Behandlung von Erkrankungen. Er verweist dabei insbesondere auf verbesserte Wireless-Technologien. »5G und 6G werden die Art und Weise, wie wir mit der Welt interagieren, radikal verändern, indem sie neue Anwendungsbereiche sowohl in öffentlichen als auch in privaten Netzwerken ermöglichen. Wir werden auch eine Verschmelzung von Sensortechnologien erleben, die tiefere Einblicke ermöglichen, als sie ein einzelner Sensor bieten kann. So könnte etwa die multispektrale Bildgebung mit herkömmlichen MRTs kombiniert werden, um Zustände und Anomalien auf neue Art und Weise zu erkennen und zu entdecken. Diese Sensorfusion wird zusätzliche digitale Hochgeschwindigkeits- und Bildverarbeitung sowie neue Machine Learning-Algorithmen erfordern, um aus den Daten Erkenntnisse zu gewinnen.«

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© semsotech

Computer Vision und gedruckte Elektronik

Der Blick ins Innere des Menschen hat die Medizintechnik im vergangenen Jahrhundert am elementarsten vorangetrieben, so die mehrheitliche Meinung unter den befragten Medizintechnik-Fachleuten. Bildverarbeitung ist für ‚den Blick in den Körper‘ essenziell und wird über die Künstlichen Intelligenzen weiter ein Wachstumstreiber der Medizintechnik sein – um noch genauer hinzuschauen, exakterer und frühere Diagnosen zu stellen und Menschen damit zeitiger im Krankheitsverlauf zu helfen. Für Oliver Gropp von Semsotec gehören Displaytechnologien wie OLEDs und MicroOLEDs unausweichlich zu dieser Entwicklung. »Die Stärken von OLEDs und MicroLEDs kommen in der Medizintechnik über Augmented-Reality- und Virtual-Reality-Anwendungen voll zum Tragen.« Gropp denkt dabei insbesondere an kleine medizinische Wearables wie Fitness-Armbänder, Blutdruckmesser oder auch Herzschrittmacher. Er sieht eine weitere Display-Technik auf dem Vormarsch: »3D-Displays stehen in der Medizintechnik für chirurgische Genauigkeit und präzises Arbeiten über gestochen scharfe, lebensechte Monitorbilder ganz ohne Brille. Die Befundung und Diagnose werden erleichtert und Ärzte können minimalinvasive Eingriffe über die Wiedergabe stereoskopischer Bilder im Original einfacher ausführen.

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© Rutronik

Andreas Mangler, Mitglied der Geschäftsführung bei Rutronik, setzt für die kommenden Jahre auf das neue Bildgebungsverfahren der Elektroimpedanztomografie (EIT). Das nicht-invasive Verfahren liefert ein Bild von der räumlichen Verteilung der elektrischen Impedanz im Körper und verzichtet mit höherfrequenten Wechselströmen auf ionisierende Strahlung. »Es ermöglicht damit kontinuierliche Untersuchungen, die benötigte Ausrüstung ist außerdem viel kleiner und kostengünstiger.« Mangler hält eine weitere Technologie für einen anders gearteten Blick in den Körper unerlässlich: »Gedruckte Sensoren verkleinern die ‚Geräte‘ zur Impedanzmessung und werden in den nächsten Jahren noch größere Bedeutung gewinnen«, so der Marktstratege. »Via Bioimpedanzmessungen können Körperflüssigkeiten wie Schweiß und Speichel analysiert werden, etwa über die Integration von Sensorik in Kleidung«. Da diese Messungen genau sein müssen, schreibt Mangler für die Extraktion wesentlicher Körperdaten neben den gedruckten Sensoren auch KI und Wireless-Komponenten eine hohe Wichtigkeit zu.

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© Schreiner

Für Roland Schreiner, Geschäftsführer der Münchner Schreiner Group spielt das Thema integrierte Elektronik und gedruckte Sensoren nicht nur am menschlichen Körper eine entscheidende Rolle: »Smarte Pharmaverpackungen mit integrierte Leiterbahnen plus Platine generieren Echtzeitdaten, wenn der Patient eine Tablette aus dem Blister drückt, und können diese via NFC oder Bluetooth an Apps oder medizinisches Personal senden«, so der Verpackungsspezialist. Erinnerungen, Therapieanpassungen und die Einnahme können so digital verwaltet und kontrolliert – Patienten sollen damit keine Tablette mehr vergessen und schneller gesund werden.

Martin Dibold ist Geschäftsführer bei Hy-Line Computer Components.
Martin Dibold ist Geschäftsführer bei Hy-Line Computer Components.
© Hy-Line

Automatisierung und Power

Vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Gesellschaft und dem zunehmenden Fachkräftemangel setzt Martin Dibold, Geschäftsführer bei Hy-Line in Taufkirchen, in den kommenden Jahren auf eine starke Entlastung der Medizin durch die Automatisierung, z.B. im Bereich der autonomen Logistik in Krankenhäusern. „Dabei ist eine störungsfreie Datenkommunikation (M2M) oder eine einwandfreie und intuitive Bedienung zwischen Mensch und Maschinen (HMI) entscheidend“. Der Signal- und Display-Experte Dibold setzt technologisch unter anderem auf die berührungs- und damit kontaminationslose Bedienung.

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© Cosel

Patrick Le Fèvre, CMO von Powerbox für Cosel schaut von Berufs wegen speziell auf die Stromversorgung. Er prognostiziert, dass insbesondere Wide-Band-Gap-Halbleiter in der Medizintechnik verstärkt Fuß fassen und die Effizienz und Leistung der Medizingeräte exponentiell steigern. Aber auch Energy Harvesting und Sensoren mit extrem niedrigem Stromverbrauch sowie Embedded Systeme werden die Medizin verändern. Le Fèvre denkt dabei an neue Therapien in Form gekapselter Mikrozylinder, die von körpereigenen Elektrolyseuren angetrieben werden und das Medikament direkt an die betroffenen Organe geben. Dies wird seiner Ansicht nach nur mit Mikro-Energiesystemen, miniaturisierten Superkondensatoren und drahtloser Verbindungtechnik möglich sein.

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© ebm-Papst

MedTech-Produktion und Lieferketten

Doch was nützt die best-entwickelteste Technik, wenn für deren Produktion und Inverkehrbringung Materialien und Komponenten fehlen sowie durch politische oder wirtschaftliche Verwerfungen die Lieferketten gestört sind? Für Philipp Rauch, Marktmanager Medizintechnik bei ebm-papst, rücken daher in den nächsten Jahren neben der reinen Technologie vor allem die Herstellung und die Lieferketten in den Blickpunkt: »Spezifische teure Produktentwicklungen werden mehr und mehr durch modulare Lösungen ersetzt.« Für ihn gewinnt die Time-to Market immer mehr an Bedeutung, »damit die MedTech-Hersteller wettbewerbsfähig bleiben und Kunden vor Ort mit einer local-to-local Produktion schnell beliefert werden können«.

„Der Kampf gegen den Klimawandel ist die wichtigste Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Auch in der Medizintechnik ist es höchste Zeit für eine Kurskorrektur. Es gilt, Qualität, Innovation und Wirtschaftlichkeit konsequent am Prinzip der Nachhaltigkeit auszurichten, resümiert Michael Heider (Philips). Im Falle der Radiologie denke man natürlich zuerst an die Reduzierung des Energie- und Ressourcenverbrauchs von CTs und MRTs, doch das allein reicht laut dem Diagnose-Spezialisten nicht. »Ziel muss der Übergang vom linearen Wirtschaften zu einer Circular Economy sein, bei der wir Aspekte wie Lebensdauer, Reparaturfreundlichkeit, Wiederverwertungs- und Recyclingfähigkeit von Medizingeräten schon in der Produktentwicklung mitdenken.« (uh)


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