Intelligente Assistenzsysteme

Der Pflege digital auf die Beine helfen

21. November 2022, 9:35 Uhr | Von Christian Scholze, Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme
Bild 1: Links: Intelligente Toilette im AAL Living Lab der Hochschule Kempten. Rechts: Schwenkarm mit Urinsensor in der Detailansicht.
© Hochschule Kempten

Wie können ältere und eingeschränkte Menschen länger selbstständig und mobil bleiben? Daran forschen die Ingenieure der Hochschule Kempten und des Steinbeis-Transferzentrums München. In einer Laborwohnung werden die aktuellen und zukünftigen Technologien für die Pflege erprobt.

Die Corona-Pandemie hat die kritische Situation in der Pflege verdeutlicht. Zu wenig Personal sieht sich einer immer weiter wachsenden Zahl an Pflegebedürftigen gegenüber. Überlastung, schwindende Motivation und in der Folge hohe Fluktuation bei den Mitarbeitenden sind die Folgen, mit denen die Betreiber von Einrichtungen und Pflegediensten zu kämpfen haben. Neben gesundheitspolitischen Maßnahmen kann der Einsatz von technisch-digitalen Systemen helfen, Pflegekräfte zu entlasten und Pflegebedürftige zu unterstützen. Intelligente Assistenzsysteme können ältere Menschen in ihrem Alltag begleiten und ihnen helfen, länger autonom und mobil zu bleiben. Das entlastet in der Folge auch die Pflegeeinrichtungen und -dienste.


Einige medizintechnische und elektronische Hilfsgeräte und -systeme für die ambulante und häusliche Pflege gibt es bereits. Doch das offene Potenzial ist riesig, der Großteil an intelligenten Pflegesystemen wird erst in den nächsten Jahren entwickelt werden und auf den Markt kommen.

Das Projekt CARE REGIO

Im Verbundprojekt CARE REGIO werden an Forschungseinrichtungen im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben technisch-digitale Konzepte für die Pflege entwickelt. Ziel ist es, dadurch Pflegekräfte, pflegende Angehörige und Pflegebedürftige zu entlasten. Das AAL Living Lab (Musterwohnung) der Hochschule Kempten wird für das Verbundprojekt mitgenutzt. Die Besichtigung ist auf Anfrage möglich.
www.care-regio.de

 

Digitale Assistenz für Senioren

Die Hochschule Kempten testet unter der Leitung von Prof. Dr. Petra Friedrich eine Vielzahl von digitalen Pflegehelfern in einem Labor der besonderen Art: In der voll ausgestatteten Musterseniorenwohnung »AAL Living Lab für Assistenztechnologien« sind unterschiedlichste technisch-digitale Systeme eingebaut; sie sollen die Bewohner in ihrem Alltag daheim unterstützen und ihnen ermöglichen, möglichst lange in der gewohnten Umgebung leben zu können.

Die Palette der Assistenzsysteme im Living Lab reicht dabei von vergleichsweise einfachen, mechanischen Geräten bis hin zu hochkomplexen digital-intelligenten Anwendungen. Zu den mechanischen Hilfen gehören höhenverstellbare Küchenschränke oder auf Knopfdruck rotierende Fächer im Kleiderschrank – sie sorgen für ideale Höhen, damit Essen oder Kleidung auch vom Rollstuhl aus leicht einsortiert und entnommen werden kann. Betten lassen sich aus der Liegeposition in eine »Aufstehposition« verstellen, aus der beeinträchtigte Personen mit geringem Kraftaufwand auf die Beine kommen. Zu den digital-intelligenten Helfern zählen unter dem Bodenbelag befindliche Sensoren, deren Software erkennt, ob ein Mensch auf dem Boden steht, läuft oder liegt – und im Falle eines Sturzes automatisch Hilfe ruft. Die genannten Beispiele sind bereits auf dem Markt verfügbar.

Die intelligente Toilette

 Das All-in-one-Medizingerät am Handlauf der intelligenten Toilette dient zur Messung verschiedenster Vitalparameter am Finger
Bild 2: Das All-in-one-Medizingerät am Handlauf der intelligenten Toilette dient zur Messung verschiedenster Vitalparameter am Finger.
© Hochschule Kempten

Eine Neuentwicklung ist die intelligente Toilette der Laborwohnung (Bild 1): Sie misst automatisch die Vitalwerte des Nutzers. Das Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme in München hat das kluge Örtchen und einen neuartigen Sensor für Urin konzipiert. Nach dem Toilettengang misst dieser diagnostisch relevante physikalische und chemische Werte des Urins und übermittelt die Daten an ein Gerät im Handlauf der Toilette. Das All-in-one-Medizingerät (Bild 2) misst dazu weitere Vitalwerte wie Körpertemperatur, Puls, Blutdruck, Hydratisierung und Sauerstoffsättigung.

Das All-in-one-Medizingerät mit integrierter Sensormanschette
Bild 3: Das All-in-one-Medizingerät mit integrierter Sensormanschette.
© Steinbeis-Tranferzentrum Medizinische Elektronik

Dazu muss die Person einfach kurz ihren Finger in eine integrierte Messmanschette einführen), außerdem kann ein weiterer per Bluttropfen den Blutzuckerwert bestimmen (Bild 3). Spezielle Elektroden schreiben zudem automatisch ein EKG.

Ein integrierter Bildschirm zeigt die gemessenen Werte an und sendet diese per Mobilfunk an ein intelligentes Assistenzsystem in einem medizinisches Expertenzentrum. Arzt und Patient haben über die Telemedizin-Plattform Comes jederzeit Zugriff auf die Daten und ihren aktuellen Zustand – liegen die Werte in einem kritischen Bereich wird der behandelnde Arzt umgehend alarmiert. Ist er nicht verfügbar, nehmen Ärzte des Expertenzentrums mit dem Patienten Kontakt auf oder setzen einen Notruf ab. Das All-in-one-Medizingerät ist mobil und kann für Ausflüge vom Handlauf genommen werden, um die Vitalwerte außer Haus zu überprüfen. Es ist klein, stabil und passt in die Jackentasche.

Das intelligente Assistenzsystem Comes steht für das Lateinische »der Begleiter
Bild 4: Das intelligente Assistenzsystem Comes steht für das Lateinische »der Begleiter.
© Uli Benz / TUM

Das telemedizinische Gerät war eigentlich für Herz-Kreislauf-Patienten gedacht. Gerade im ländlichen Raum mit seinen Versorgungslücken sollten die Ärzte mithilfe der Comes-Plattform über den Gesundheitszustand ihrer Patienten informiert bleiben, ohne dass diese die oft weiten Wege in die Praxis auf sich nehmen mussten. Erste Testpatienten fühlten sich unabhängiger und mobiler, gleichzeitig aber auch besser betreut und sicherer. Außerdem konnte das All-in-one-Gerät auch von Pflegediensten und Pflegekräften in Kranken- und Seniorenheimen verwendet werden, um schnell und zuverlässig die Vitalwerte des Patienten zu überprüfen. Die digitale Dokumentation in der Patientenakte läuft vollautomatisch – das spart Zeit, die für andere Pflegetätigkeiten frei bleibt – wovon Pflegekräfte und Patienten gleichermaßen profitieren (Bild 4).

Lebensqualität durch Smarthome

In das Kemptener AAL Living Lab wurden neben den Geräten zur Überwachung der Vitalwerte auch Systeme eingebaut, die das Wohlbefinden und die Lebensqualität steigern. Gerade für ältere, allein lebende Menschen kann dieser Faktor entscheidend sein. Eine biodynamische Lichtsteuerung kann zum Beispiel die Leistungsfähigkeit und die Gemütslage verbessern. Das Licht passt sich mit verschiedenen Lichtfarben und Lichtstärken automatisch an den Tages- und Nachtrhythmus des Bewohners an und vermittelt ihm Behaglichkeit. Über eine Steuerung lässt sich zusätzlich verschiedenste Haustechnik wie Heizung oder Belüftung auf die Bedürfnisse der Bewohner abstimmen.

Der bionische Rollstuhl »AssistMobil« balanciert in der Ebene auf zwei Rädern, kann aber mithilfe seiner beiden Beine selbst Treppen überwinden
Bild 5: Der bionische Rollstuhl »AssistMobil« balanciert in der Ebene auf zwei Rädern, kann aber mithilfe seiner beiden Beine selbst Treppen überwinden.
© Uli Benz / TUM

Die Musterwohnung ist barrierefrei, alle Räume können ohne Schwellen und Stufen erreicht und auch mit dem Rollstuhl befahren werden. So könnte im Wohnlabor auch das Mobilitätssystem »AssistMobil« Einzug halten: Ein Rollstuhl, der sogar Treppen überwinden kann (Bild 5). Kernstück ist ein Sitz, der sich für kurze und mittlere Strecken in der Wohnung und auch außer Haus auf einem Segway-ähnlichen Fahrwerk befindet und so einen bionischen Rollstuhl bildet. Der Rollstuhl wird auf nur einer Achse, also einem Radpaar, balanciert; jedes Rad wird durch einen separaten Elektromotor dynamisch gesteuert. Die Motoren halten den Schwerpunkt genau über der Radachse, dadurch ist der Rollstuhl extrem wendig und leicht zu steuern.

Mit dem Rollstuhl die Treppe rauf

Erkennen die Ultraschallsensoren des Fahrwerks eine Treppe, wechselt der Rollstuhl in den Treppen-Modus: Zwei Hilfsräder fahren aus dem Fahrwerk heraus und das Fahrzeug fährt rückwärts an die Treppe heran. Anschließend fahren zwei ausklappbare Beine heraus, die sich ähnlich den menschlichen Beinen aus Ober- und Unterschenkel zusammensetzen. Mit ihren Elektromotoren schieben die Beine den Rollstuhl auf die nächsthöhere Stufe, bevor sie sich nacheinander ebenfalls neu positionieren. So erklimmt der Rollstuhl Stufe für Stufe. Diese Funktionsweise klappt auch beim Einstieg in ein Auto – der Sitz wird mit der darauf sitzenden Person als Fahrersitz ins Auto geschwenkt. Das Rollstuhlfahrwerk fährt danach automatisch zum Heck und verlädt sich selbstständig im Kofferraum. So kann eine beeinträchtige Person alle Wege des Alltags, vom Aufstehen am Morgen bis zum Zubettgehen am Abend, auf dem gleichen Sitz und ohne fremde Hilfe bewerkstelligen. Auch zwischendrin aufstehen ist möglich, der Rollstuhl fährt in diesem Fall automatisch in den Parkmodus, beispielsweise an seine Ladestation. Mit hoher Flexibilität bietet das elektronisch gesteuerte AssistMobil ganztags unabhängige Mobilität.

Der treppensteigende Rollstuhl existiert bis dato als Demonstrator – er soll von der Hochschule Kempten in Kooperation mit dem Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme weiterentwickelt und auf den Markt gebracht werden. Die erwähnten technischen Errungenschaften sind gute Beispiele für medizintechnische und intelligente Systeme, die ältere Menschen dabei unterstützen, möglichst lange ihre Mobilität und Selbständigkeit zu behalten. Damit sollen einerseits die Lebensqualität älterer und mobilitätseingeschänkter Menschen gesteigert und andererseits Pflegeeinrichtungen und Pflegepersonal entlastet werden, um einen Kollaps des Pflegesystem zu vermeiden.

Das Steinbeis-Transferzentrum

Das Münchner Steinbeis-Transferzentrums Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme entwickelt intelligente Systeme für Diagnose, Therapie und Assistenz. Das Team um Prof. Dr. Bernhard Wolf verfügt über besondere Expertise im Bereich Sensorik, vor allem bei multiparametrischen Sensoren für biophysikalische Analysen. Außerdem planen und realisieren die Entwickler Systeme für die Tumordiagnose, für Anwendungen im Umweltschutz und der Hygiene sowie in der Telemedizin.
www.stw-med-chip.de

 


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