Mobilisierung von Patienten

Die Muskeln spielen lassen

15. Juni 2022, 14:38 Uhr | TQ / Reactive Robotics; Redaktion: Ute Häußler
Mobilisierung eines Intensivpatienten mit Blick auf die Alpen. In Bad Aibling kommt die neue roboterassistierte Frühmobilisierung schon zum Einsatz.
© TQ/RR

Mit Hilfe eines Roboter-Betts werden Intensiv­patienten direkt mobilisiert, sie verlieren weniger Muskeln und werden schneller gesund.

Nicht erst seit Corona und den zahllosen schwerstkranken Long-Covid-Patienten stehen Krankenhäuser und die Intensivpflege im Fokus des allgemeinen Interesses. Mehr und mehr werden die immensen Herausforderungen an das Gesundheitswesen gegenwärtig: zu wenige Intensivbetten, viel zu wenig Personal – diese Fakten verstärken sich stetig. In Zeiten der Pandemie droht die Situation zu eskalieren.

Dazu kommt der demografische Wandel mit einer alternden Bevölkerung und hoher Lebenserwartung. Im Jahre 2030 – so eine Studie des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) – werden zusätzlich 187.000 Pflegevollkräfte benötigt. In Krankenhäusern sind demnach 63.000 zusätzliche Vollzeitpflegekräfte erforderlich. Ein noch dramatischeres Bild zeichnet der Pflegereport der Bertelsmann Stiftung, der prognostiziert, dass bis 2030 die Zahl der Pflegebedürftigen um 50 Prozent steigen wird. Laut dieser Erhebung fehlen dann fast 500.000 Vollzeitkräfte in der Pflege. Was liegt also näher, als intensiv nach technischer Unterstützung zu forschen, die Ärzte, Pflegekräfte sowie Therapeuten entlastet und zudem die Genesung optimiert?

Hilfe direkt im Intensivbett

Das Ergebnis langjähriger Forschungsarbeiten ist das neu entwickelte Vemo-System für die Frühmobilisierung von Schwerstkranken. Es wird von der TQ-Group, einem der deutschlandweit führenden Technologiedienstleister in Bayern gefertigt und mit TQ-eigenen Motoren betrieben. Und da sowohl Entwicklung als auch Fertigung »Made in Germany« erfolgen, sind die Produktionswege äußerst kurz.

Vemo bedeutet Very Early Mobilization beziehungsweise Frühmobilisierung und besteht aus einem bis zu 70 Grad vertikal neigbaren Intensivkrankenbett und Robotik, die mit KI-gestützter Software ausgestattet ist. Eingesetzt wird das Robo-Bett für die Mobilisierung von Schwerstkranken und Beatmeten. Durch längeres Liegen verlieren diese Patienten sehr schnell und sehr viel lebenswichtige Muskelmasse. Die CIP-Patienten (Critical Illness Polyneuropathie) bauen Skelett- und Atemmuskeln ab, was zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands und einer höheren Sterblichkeit führt. Es ist äußerst wichtig, solche Patienten möglichst früh wieder aufzurichten und mit Gehbewegungen die Muskeln sowie den Kreislauf zu trainieren. Mit Intensivpatienten funktioniert das nur im Bett. Die Idee ist, die Mobilisierung der Patienten direkt in deren Intensivbett durchzuführen und einen gefährlichen Transfer des Patienten in ein normales Krankenbett zu vermeiden.

Die Patienten verbleiben während der Mobilisierung in den mit Bewegungs- und Sicherungselementen ausgestatteten Spezialbetten – ein risikoreicher Patiententransfer oder die Umlagerung auf ein separates Therapiegerät sind somit nicht nötig. Das entbindet Pflegekräfte auch davon, die Patienten hochzuheben sowie zu verlagern und beugt zudem Komplikationen durch eventuell beim Umlagern beeinträchtige Versorgungs- oder Beatmungsschläuche vor. Die Mobilisierung der Schwerstkranken erfolgt direkt in deren Betten durch die bislang einzigartige Kombination von Gangtherapie und Aufrichtung. Zudem erlaubt das Robo-System eine frühzeitige Bewegungstherapie; selbst von beatmeten Patienten.

Premiere in Harthausen

Bereits seit einigen Monaten sind in der Schön Klinik Bad Aibling Harthausen in Oberbayern zwei Vemo-Systeme im Praxiseinsatz. Die Klinik verfügt über knapp 40 Intensivbetten und beschäftigt über 100 Intensivpflegekräfte. Chefarzt Dr. Friedemann Müller kennt das neuartige Therapieprojekt seit Anbeginn: Er ist selbst maßgeblich an der Entwicklung von Vemo beteiligt und fungiert als Schnittstelle zwischen Entwicklung und Klinikeinsatz. Er steht im direkten Austausch mit Entwickler Dr. Alexander König, dem Gründer und Geschäftsführer von Reactive Robotics, und unterstützt die Weiterentwicklung des Intensivkrankenbettes. Im praktischen Einsatz zeigte sich, dass die Pflegekräfte das Mobilisierungsbett nur mit größerem Kraftaufwand bewegen konnten – aufgrund der Bewegungsapparaturen und Sicherungselemente wiegt es rund 200 Kilogramm. Auf Dr. Müllers´ Anregung wurde das Bett mit einem fünften Rad sowie einem Servomotor ausgestattet. Das hilft im Arbeitsalltag spürbar.

»Wir hatten und haben seit rund 15 Jahren Vorgängermodelle im Einsatz – ein Art Kippbetten, allerdings ohne Patientenmobilisierung«, erläutert Dr. Müller. Bei Schwerstkranken besteht allerdings ein hohes Risiko, dass der Körper beziehungsweise der Kreislauf nicht mehr an das Aufstellen gewohnt ist und kollabiert, sobald der Patient in eine aufrechtere Position verlagert wird. Beim neuen Intensivbett dagegen führt der Patient – ohne eigenes Zutun – mit Roboterunterstützung die typischen Laufbewegungen durch. Die Beinbewegungen aktivieren dabei die natürliche Muskel- beziehungsweise
Venenpumpe, der Rückfluss des Blutes funktioniert ungestört, und die Gefahr eines Kollapses beim Aufstellen des Patienten ist minimiert.

Christina Nakel ist stellvertretende Stationsleiterin auf der Intensivstation und inzwischen schon Expertin in Sachen Vemo, sie unterstützt bei den Mobilisierungen und dem Einweisen der Pflegekräfte. »Für eine Therapie setzen wir circa eine Stunde pro Patient an, wobei der größte Zeitanteil auf das Vorbereiten des Patienten für die Aufrichtung besteht. Gurte und Sicherungsvorrichtungen einsetzen, Überwachungselemente für die medizinischen Werte kontrollieren etc. Das Display an der Robotereinheit, über die alle Aktivitäten gesteuert werden, stellt eine große Hilfe dar«, erläutert Nakel. Das Bedienelement enthält eine illustrierte Check-Liste, damit keiner der teils lebenswichtigen Griffe, Sicherungsgurte, Polsterungen, Schläuche etc. für die Vorbereitung und Aufstellung des Patienten vergessen wird. Dank der ausführlichen Check-Liste benötigen Pflege­kräfte neben der generellen Einweisung durch Christina Nakel lediglich rund fünf begleitete Anwendungen bis sie die Abläufe verinnerlicht haben. Die eigentliche Mobilisierung dauert – je nach Gesundheits- und Therapiezustand des Patienten – ca. 20 Minuten. Das Robo-System ermöglicht dabei zahlreiche Feineinstellungen wie die genaue Ausrichtung sowie Be- und Entlastung der Beine, Hüftstellung, Aufstellungswinkel etc. Das System speichert sämtliche Parameter der Mobilisierung und hält sie für weitere Behandlungen abrufbereit.

Herzstück des Vemo-Systems ist der von der TQ-Group entwickelte und produzierte Innenläufermotor: ein hochpräziser Motor, der auf kleinstem Bauraum große Mengen an Kraft bewegt und exakte Hin- und Herbewegungen ohne Spielraum ermöglicht. Dies ist besonders wichtig bei der Beinbewegungstherapie.

Bereicherung der Therapie

Und wie reagieren die Pflegekräfte und Therapeuten auf den neuen Roboter-Kollegen? »Zunächst herrschte große Skepsis, etwa weil die Neuerungen mit Personaleinsparungen verbunden sein könnten – was de-facto nicht zutrifft. Inzwischen überwiegen die positiven Erfahrungen und die sofort spürbaren Erleichterungen, etwa wenn das Hochheben und Umlagern von Schwerstkranken entfällt«, so der Chefarzt. »Und umso ausführlicher können sich unsere Mitarbeiter der eigentlichen und sehr zeitaufwendigen Therapie widmen.« Was die Zweifler ebenfalls überzeugt, ist die schnellere Genesung der Patienten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich durch Frühmobilisierung die Aufenthaltsdauer schwerstbetroffener, beatmeter Patienten auf der Intensivstation um bis zu 25 Prozent reduzieren lässt.

Für die Zukunft wünscht sich Dr. Müller eine größere Anzahl an mit Vemo zu betreibenden Intensivbetten. Derzeit gehören zu einer Robotereinheit – inklusive Elementen wie Steuerungs-, Bedien- und Überwachungs-Panel – jeweils nur zwei Betten. Aber die Robotereinheit von Reactive Robotics, über die die Pfleger das Bett und die Mobilisierung steuern, könnte bis zu vier Betten und damit Intensivpatienten versorgen. Und damit mehr Schwerstkranke schneller wieder zurück ins normale Leben bringen. (uh)


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