Netzhautimplantate

Diese Verkapselung geht (nicht) ins Auge

9. April 2021, 8:09 Uhr | Ville Hevonkorpi
Das Netzhautimplantat NR600 misst weniger als 5 Millimeter.
© Nano Retina

Schott Primoceler lieferte für das Netzhautimplantat von Nano Retina die Verkapselung

Millionen von Menschen leben mit degenerativen Netzhauterkrankungen wie etwa der altersbedingten Makula-Degeneration oder Retinitis pigmentosa. Diese schädigen die Fotorezeptoren in der Netzhaut, was zu einem Sehverlust und oft bis zur völligen Erblindung führt. Zwar werden derzeit neue Therapien zur Behandlung solcher Krankheiten entwickelt, dennoch bleibt eine Netzhautimplantation eine der wenigen Behandlungsmöglichkeiten bei Menschen mit Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium. 

Auf dem Weg das Sehvermögen dieser Patienten wiederherzustellen, ist Nano Retina ein wichtiger Durchbruch gelungen. Das israelische Unternehmen hat ein neues Netzhautimplantats auf Basis von Nanotechnologie entwickelt. Der winzige Chip mit dem Produktnamen NR600 kann die visuelle Wahrnehmung wiederherstellen, indem er Bilder verarbeitet und damit die Funktion von Nervenzellen übernimmt, die visuelle Signale an das Gehirn senden. 

Aufgrund seiner geringen Größe lässt sich das Implantat durch einen minimalinvasiven chirurgischen Eingriff mit schneller Genesungszeit in das Innere des Auges einsetzen. Zusammen mit einer vom Patienten getragenen Brille kann es die Funktionalität der beschädigten Fotorezeptorzellen ersetzen und gleichzeitig eine elektrische Stimulation erzeugen, um die verbleibenden gesunden Netzhautzellen zu aktivieren. 

Wichtiger Schritt zur Wiederherstellung des Sehvermögens: Die ersten klinischen Studien mit Patienten verliefen erfolgreich.
Wichtiger Schritt zur Wiederherstellung des Sehvermögens: Die ersten klinischen Studien mit Patienten verliefen erfolgreich.
© Nano Retina

Anfang 2020 erhielten zwei Patienten, die aufgrund von Retinitis pigmentosa erblindet waren, am Universitätskrankenhaus Leuven in Belgien die NR600-Netzhautimplantate. Nach der Aktivierung der Geräte sagten beide Patienten, sie könnten Bilder sehen. Die Ergebnisse markieren den Beginn einer klinischen Studie, die bis zu 20 Patienten begleiten sollen, um die Zulassung der Europäischen Union für das Gerät zu erhalten. 

Schutz empfindlicher Komponenten

Ein wichtiger Partner bei der Entwicklung vom NR600 Implantat war Schott Primoceler, eine in Finnland ansässige Tochtergesellschaft des Technologiekonzerns Schott. Der Einsatz ihrer laserbasierten Glas-Wafer-Bonding-Technologie ermöglicht eine hermetische Verkapselung des Netzhautimplantats und schützt dieses vor äußeren Einflüssen. 

»Die Technologie von Schott Primoceler war für die Realisierung des NR600-Miniaturimplantats essentiell wichtig «, erklärt Ran Mendelewicz, Vice President R&D bei Nano Retina. Die hermetische Verkapselung des Implantats ist entscheidend, um die Funktionalität im Körperinneren aufrechtzuerhalten. Herkömmliche Verkapselungskonzepte konnten die gestellten Anforderungen nicht vollständig erfüllen. So war eine extrem kleine, aber dennoch robuste Dichtung erforderlich, um die empfindliche Elektronik vor Feuchtigkeit, Vibrationen und Druck zu schützen. Darüber hinaus musste die Verkapselung transparent sein, um Infrarot-Lichtsignale vom Implantat zur Nano-Retina-Brille leiten zu können.

Die laserbasierte Glas-Wafer-Bonding-Technologie ermöglicht immer kleinere Wafer- und Chip-Size-Bauteile für implantierbare Medizinprodukte.
Die laserbasierte Glas-Wafer-Bonding-Technologie ermöglicht immer kleinere Wafer- und Chip-Size-Bauteile für implantierbare Medizinprodukte.
© Schott

»Über sieben Jahre lang arbeiteten wir mit Schott Primoceler zusammen, um die hermetische Verkapselung des Implantats mithilfe  der fortschrittlichen Glas-Micro-Bonding-Technologie zu realisieren«, fügt Mendelewicz hinzu. Die selbst entwickelte Versiegelungstechnologie verwendet einen extrem präzisen Laser, um Glas mit Glas zu verschmelzen. Geschmolzen wird dabei nur am Querschnitt, wo das Glas aufeinander trifft – eine Fläche von nur wenigen Mikrometern. Der einstufige Herstellungsprozess lässt alle anderen Oberflächen unberührt und erfordert keine Kleb- oder Zusatzstoffe, um eine hermetische Versiegelung zwischen den Glaswafern herzustellen. 

Das Netzhautimplantat NR600 misst weniger als 5 Millimeter und erfordert eine Versiegelung, die keine unnötige Masse hinzufügt. »Der Glas–Micro-Bonding-Prozess war daher gut geeignet, da er eine transparente Versiegelung mit einer Dicke von nur 20 bis 100 Mikrometern erzeugt«, so Mendelewicz. Die Technologie ist zudem sehr präzise. Das heißt, dass die Sicherheitszone um den Bonding-Bereich extrem klein ist und eine kleinere Konstruktion ermöglicht. Das ist ein entscheidender Vorteil gegenüber traditionellen Versiegelungstechnologien. Das Implantat von Nano Retina enthält extrem kleine und komplexe elektronische Komponenten, die hitzeempfindlich sind. Im Gegensatz zu herkömmlichen Verfahren wird beim Glas-Micro-Bonding nur eine winzige Zone erwärmt. Dadurch bleiben die wärmeempfindliche Elektronik und die Sensoren des gekapselten Geräts während des Prozesses auf Raumtemperatur und werden nicht beschädigt oder zerstört. 

Unterwegs zu Medizinprodukten der nächsten Generation

Das Beispiel zeigt: Glas ist nicht nur stark genug für den Einsatz in Luft- und Raumfahrtanwendungen, sondern eignet sich aufgrund der biokompatiblen Eigenschaften bestimmter Glasarten auch ideal für den Einsatz im Inneren des Körpers. Beim Glas-Micro-Bonding wird nur Glas verwendet, es sind keine zusätzlichen Fügematerialien erforderlich. Das vereinfacht den Prozess, da behördliche Genehmigungen für die Verwendung weiterer Stoffe entfallen können. 

Die Wafer-Level Glas-Micro-Bonding Technologie trägt dazu bei, einen noch nie dagewesenen Miniaturisierungsgrad bei medizinischen Geräten zu ermöglichen. Durch einen mehrschichtigen Aufbau aus Glaswafern entsteht ein komplett aus Glas gefertigtes Miniatur-Gehäuse für medizinische Implantate, MEMS-Geräte und andere kritische elektronische und optische Komponenten. Die Elektronik wird vor dem Laser-Bonding in der Kavität im Inneren platziert. Diese hermetische Versiegelung kann mit einer Vielzahl von Glasarten durchgeführt werden, darunter Borosilikat-, Quarz- und Natronkalkglas sowie Silizium.

Glas-Micro-Bonding kann zur Versiegelung von einzelnen Chips bis hin zu Wafern bis zu einer Größe von 12 Zoll verwendet werden und öffnet neue Türen für die kostengünstige Versiegelung von Implantaten und anderen Medizinprodukten im Wafer-Maßstab. Da das Verfahren nur sehr wenig Wärme erzeugt, lässt es sich sogar bei mikrofluidischen Geräten oder Sensoren einsetzen, die eine empfindliche organische Schicht oder funktionelle Beschichtung erhalten.

Dank »Through-Glass Via«-Technologie sind verdrahtete Verbindungen möglich und üblich; darüber hinaus erlaubt die transparente Versiegelung eine vollkommen drahtlose Übertragung von Radiofrequenzen oder optischen Signalen ins Innere des versiegelten Gehäuses, sowie von innen nach außen. In solchen Wireless-Anwendungen lassen sich Masse und Komplexität eines Bauteils weiter reduzieren. Funkfrequenzen ermöglichen eine Vielzahl von Funktionen, die vorher unmöglich waren. Dazu gehören der Anschluss von Geräten an das Internet, ihre Verwendung für die Echtzeitüberwachung und die Übermittlung von Software-Updates, ohne dass ein Gerät im äußersten Fall explantiert werden muss.

Der Autor

Ville Hevonkorpi ist Managing Director bei Schott Primoceler Oy

Das Unternehmen

Die innovative Laser-Micro-Bonding Tehnologie von Schott Primoceler ergänzt seit 2018 die langjährige Kernkompetenz von Schott auf dem Gebiet der hermetischen Gehäusetechnologien. Schott verfügt über ein großes Portfolio an vakuumdichten Gehäusen, die ausschließlich aus anorganischen Materialien wie Glas und Metall bestehen. Sie verhindern das Eindringen von Feuchtigkeit und schädlichen Gasen und schützen so empfindliche Elektronik.

Dank dem Hightech-Verfahren von Schott Primoceler können neue Anwendungsbereiche für das Wafer-Level Chip-Scale Packaging (WL-CSP) erschlossen werden. Besonders interessant ist der hohe Grad an Miniaturisierung in Kombination mit einer zuverlässig hermetischen Verkapselung für medizinische Implantate, mikro-elektro-mechanische Systeme (MEMS) und andere elektronische oder optische Komponenten. Schott Primoceler Oy führt seine Geschäfte vom Standort Tampere in Finnland aus als Teil des Geschäftsbereichs Schott Electronic Packaging.

Webadresse

www.schott.com/primoceler


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