Kunststofftechnik für Medizinprodukte

Eine perfekte Pipette, bitte

20. März 2023, 10:56 Uhr | Von Wolfgang Zangerle, Netstal
Bild 1: Pipettenspitzen für die In-Vitro- und Labor-Diagnostik sind Präzisionsprodukte mit einer anspruchsvollen Fertigung.
© Netstal

Die präzise Herstellung von Pipetten ist komplex und technisch anspruchsvoll. Für höchste Qualität und Effizienz braucht es performante, wiederholgenaue Spritzgussmaschinen, hochpräzise Formen, eine schnelle Robotik mit valider Teileprüfung und die automatisierende Vernetzung aller Komponenten.

Eine neuartige, komplett abgestimmte Turn-Key-Anlage vereint die spezifischen Anforderungen für die Pipetten-Fertigung.

Aufgrund des pandemiebedingten Nachfragesprungs denken Pharma- und Medtech-Hersteller wie -Zulieferer vermehrt über eine eigene Produktion von Pipettenspitzen nach. Oft fehlt aber der technische Hintergrund, diese selbst aufzubauen. Pipettenspitzen für die In-vitro-Diagnostik und andere Laboranalytik müssen hohen Qualitätsstandards
und engen Produktionstoleranzen entsprechen. Speziell müssen die definierten
Designtoleranzen exakt erfüllt werden, um die definierte Flüssigkeitsmenge aufzunehmen und verschleppungsfrei zu übertragen.

In den heutigen automatisierten Liquid-Handling-Systemen ist die kapazitive Flüssigkeitserfassung die vorherrschende Technologie, was elektrisch leitfähige Pipettenspitzen erfordert. Die perfekte Pi­pettenspitze (Bild 1) ist das Ergebnis eines optimierten Produktionsflusses, bei dem Material, Form und Produktionstechnologie nahtlos zusammenarbeiten.

Komponenten des Produktionssystems

Eine Option bieten fertige Produktionszellen nach cGMP (Current Good Manufacturing Practice). Die Fertigungszentren sind laufend qualifizierbar und liefern sowohl Qualität, Produktionssicherheit wie auch hohe Stückzahlen. Ein Referenzsystem hat Netstal auf der Fachmesse K 2022 gezeigt: die vollelektrische Maschine der Elion-Reihe hat in der Med-Version 120 Tonnen Schließkraft und arbeitet mit einer Spritzgussform der Firma Männer. Die produzierten Pipetten werden mittels einer Automationsanlage von MA micro automation schonend und schnell aus der Form entnommen und zu 100 Prozent optisch geprüft und in Trays ausgegeben.

Die Beispielanlage liefert vollständig geprüfte »100 μl-Pipetten« aus einer 64-fach-Form in einer sehr schnellen Zykluszeit von 5,3 Sekunden. Das Fertigungszentrum benötigt nur 25 m² Produktionsfläche, was einer Bruttokapazität von rund 43.000 Pipetten pro Stunde, also rund 1720 Pipetten pro Stunde und Quadratmeter, entspricht.

Anforderungen an die Spritzgussmaschine

Die Spritzgussmaschine muss für die Pipettenproduktion spezifische Aufgaben erfüllen. In der Materialaufbereitung muss beispielsweise eine entsprechende Plastifizierung gewählt sein, welche das Rohmaterial nicht kontaminiert, nicht de-homogenisiert oder sogar unzulässig degradiert. Sollte einer dieser Faktoren nicht beherrscht sein, so könnten die
Pipetten im automatisierten Diagnose­prozess versagen, ein Wiederholen nötig machen oder sogar zu Fehlmessungen führen. Die Firma Netstal hat für exakte
Produktionsergebnisse eine proprietäre RFC-Regelung erdacht, welche den Prozess des Einspritzens in die Form stabil hält, um eine hohe Dimensionskonstanz an den Pipetten zu erzeugen. Bild 2 zeigt den Unterschied der Schussgewichtskonstanz bei einer Produktion mit und ohne RFC-Regelung.

Netstal Kunststofffertigung Medizintechnik Pipetten
Bild 2. (Teil 1) Unterschied der Schussgewichtskonstanz bei einer Produktion mit und ohne RFC-Regelung.
© Netstal

Präzises Werkzeug

Neben der hohen Präzision des Werkzeuges von Männer muss auch der Heißkanal mit seinen 64 Düsen perfekt geregelt und balanciert sein, um eine symmetrische Füllung der Kavitäten und somit identische Pipetten zu erhalten. Dafür sorgen u. a. Temperatursensoren an allen 64 Heißkanal-Düsenspitzen, deren Signale an den G24-Gammaflux-Regler weitergeleitet werden. Der Regler erfasst die
Werte 20-mal in der Sekunde und nimmt Anpassungen vor, wenn diese 0,014 °C vom Sollwert abweichen.  

Für eine hochpräzise Temperaturführung des gesamten Werkzeuges und im Speziellen aller 64 Kavitäten kommen die Temperiergeräte der Firma HB-Therm zum Einsatz. Geregelt wird Vorlauftemperatur, Druck und Durchfluss. 16 Flusssensoren überwachen die 64 Kavitäten und die Rücklauferwärmung. Das Resultat sind identische kalorische Zustände bei allen Kavitäten. Jegliche Abweichung ist zu vermeiden, da Dimensionsveränderungen an den Pipetten zu Ausschuss bei der nachfolgenden optischen Prüfung führen.

Netstal Kunststofffertigung Medizintechnik Pipetten
.Bild 2. (Teil 2) Unterschied der Schussgewichtskonstanz bei einer Produktion mit und ohne RFC-Regelung.
© Netstal

Verbunden via OPC UA

Damit die verschiedenen Komponenten und Systeme im Verbund richtig agieren, sind diese mittels OPC-UA-Schnittstellen vernetzt. Der Bediener der Fertigungs­einheit kann über ein zentrales Panel alle Systemeinheiten steuern und sich von einer »Smart Operation«, dem automatisierten Start- und Stopp-Programm leiten lassen. Das Tool ist zudem ein wichtiges Element der Produktionssicherheit. Mittels vordefinierter Abläufe kann die Steuerung den Mitarbeiter durch ihre Bedienoperationen führen. Dies ist wichtig, wenn im Vierschichtsystem produziert wird.

Sobald die Pipettenspitzen auf Entnahmetemperatur abgekühlt sind und das Werkzeug auffährt, tritt die modular aufgebaute Automation von MA micro automation mit ihrer Hochgeschwindigkeits-Linearachse in Aktion. Sie entnimmt die 64 Pipetten innerhalb von 1.07 Sekunden und übergibt diese weiter. Nun kann ein Q-Schuss entnommen werden oder die Teile gehen weiter in die Kameraprüfung.

Inspektion und Reinraum

Die visuelle Prüfung ist nur eine von vielen Inspektionen, welche von MA micro automation für vollautomatisierte Produk­tionsanlagen zur Herstellung von Pipettenspitzen entwickelt wurde. Bei der 100%-Prüfung werden Taumelschlag/Krümmung jeder Pipette überwacht. 100% Kontrolle der Pipettenspitze (frontal und radial) und der Pipettenhalterung (frontal) können zusätzlich kontrolliert angesetzt werden, um absolut sicher zu gehen, dass keine Pipetten in Racks abgelegt werden, welche die definierte Teilegenauigkeit nicht exakt erfüllen. Bei der Prüfung werden bis zu 48 Messungen pro Sekunde durchgeführt, und dies in einem cGMP-qualifizierten Zustand. Nach der erfolgreichen Inspektion werden die Pipetten je nach Wunschkonfiguration des Kunden in entsprechende Racks, welche spritzgegossen oder tiefgezogen sind, oder in Beutel abgefüllt.

Pipettenproduktionen unterliegen den Anforderungen an eine kontrollierte Umgebung, zumeist ist das Reinraum ISO 8 und GMP C. Eine Qualifizierung der Turn-Key-Anlage nach cGMP und die Erfüllung der entsprechenden Reinraumanforderungen ist also zwingend, hierbei spielt die Kalibrierung der Maschine eine entscheidende Rolle. Netstal ist nach ISO 17025 zertifiziert und darf auch Rekalibrierungen an Produktionsanlagen beim Kunden durchführen, um die Produktionskonstanz und Validität der Maschine sicherzustellen.

Netstal Kunststofffertigung Medizintechnik Pipetten
Bild 3. Netstal hat die erste komplett abgestimmte Turn-Key-Anlage für die Produktion von Pipettenspitzen auf den Markt gebracht.
© Netstal

Erste Turn-Key-Produktion

Bisher gab es auf dem Markt noch keine komplett abgestimmte Turn-Key-Anlage für Pipettenspitzen. Die neuartige Produktionszelle (Bild 3) ist ein eindrückliches Ergebnis für eine Hand-in-Hand-Kooperation zwischen Hersteller und allen beteiligten Lieferanten. Für den Kunden ist es damit sehr einfach, die eigene Anlage zu konfigurieren. Die zeit- und kostenintensive Trial-and-Error-Phase wird übersprungen, nach erfolgreich abgeschlossenen Abnahmetests ist die Pipettenzelle als Anlage direkt »ready to produce«. Neben einer hohen Sicherheit beim Schritt in das Produktsegment verspricht die neue Fertigungsinsel maximale Effizienz und höchsten Output in der Serienfer­tigung. (uh)


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