Wearables

Überwachung der Atemwege im 21. Jahrhundert

8. Juni 2020, 14:00 Uhr | IMEC
IMEC-Wissenschaftler entwickeln Monitoring-Plattform für COPD-Patienten
© Pixabay

Das Monitoring zur Diagnose und Nachsorge von Atemwegserkrankungen basiert auf Fragebögen sowie aufwendigen Tests. IMEC schlägt einen neuen Ansatz vor, um die Überwachung der Atemwege patientenfreundlicher und kontinuierlicher zu gestalten.

Im Vergleich zum Herzmonitoring hat der Bereich der Atmungsüberwachung weniger Aufmerksamkeit erhalten und weniger technologische Innovationen sowohl bei Konsum- als auch bei medizinischen Anwendungen erlebt. »Ein großer Schritt nach vorne wäre eine tragbare Plattform, zum Beispiel für COPD- oder Asthmapatienten«, sagt Carlos Agell, Programmleiter Connected Health Solutions an der Interuniversity Microelectronics Centre (IMEC), Löwen (Belgien).

Ob tragbare Geräte auch bei viralen oder bakteriellen Infektionen der Atemwege (wie bei der aktuellen COVID-19-Pandemie) eingesetzt werden können, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, dass allgegenwärtige Atemwegsüberwachungssysteme es ermöglichen, objektive Daten zu sammeln, während die Menschen zu Hause bleiben und andere nicht infizieren, wenn nötig auch über einen längeren Zeitraum. Wearables könnten als Frühwarnsystem für den sich verändernden Zustand eines Menschen dienen. In dieser Hinsicht könnte ein tragbares Pflaster, das die Atmungsparameter oder die Sauerstoffsättigung des Blutes verfolgt, die Grundlage für eine neue Strategie im Umgang mit zukünftigen Pandemien sein.
 

Kasten - Kurz erklärt - COPD
© medical design

Von Fragebögen zu intermittierenden Tests

Das heutige Monitoring zur Diagnose und Nachsorge von Atemwegserkrankungen (COPD, Lungenfibrose, Mukoviszidose und Asthma) basiert auf Fragebögen sowie standardisierten Tests. Die Spirometrie ist der am weitesten verbreitete Lungenfunktionstest. Sie misst die Menge und Geschwindigkeit der Luft, die ein- und ausgeatmet werden kann. Sie erfordert, dass der Patient durch ein Gerät atmet. Das ist was weder praktisch noch permanent. Die Pulsoxymetrie überwacht die Sauerstoffsättigung des Blutes eines Patienten. Sie erfordert das Tragen eines Fingerclips und ist als Langzeitüberwachungslösung außerhalb eines klinischen Umfelds ungeeignet.

Lungenscans können bei der Diagnose bestimmter Lungenprobleme helfen. Sie können jedoch nur in einer Krankenhauseinrichtung durchgeführt werden und erfordern spezielle Geräte und geschulte Techniker. »Viele dieser Tests haben den Nachteil, dass sie von gut ausgebildetem Fachpersonal durchgeführt werden müssen, oft keine kontinuierliche Überwachung erlauben und für den Patienten häufig unangenehm sind«, so Agell.

Ein multidisziplinärer Ansatz

Und wie geht es dem Patienten außerhalb des Krankenhauses, in seiner häuslichen Umgebung? Für diese Informationen muss sich der Arzt auf Fragebögen stützen. Im Allgemeinen unterschätzen die Patienten ihren Zustand oder erinnern sich einfach nicht mehr daran, wie sie sich vor einer Woche oder einem Monat gefühlt haben. »Folgekonsultationen würden von objektiven Daten, die während des täglichen Lebens eines Patienten gemessen werden, sehr profitieren.«
 

Formfaktoren der Prototypen für das Atemmonitoring von COPD-Patienten
Formfaktoren der Prototypen für das Atemmonitoring von COPD-Patienten
© IMEC

Agell und seine Kollegen schlagen daher einen neuen Ansatz vor, um die Überwachung der Atemwege patientenfreundlicher und kontinuierlicher zu gestalten. Er umfasst neue Erfassungsmethoden in benutzerfreundlichen Formen (wie Armbänder und Pflaster) und die Kombination der gemessenen Daten mithilfe von Algorithmen in klinisch validierten Studien. Das soll es Medizingeräteherstellern ermöglichen, ein kontinuierliches Atemwegsmonitoring in Krankenhäusern und im täglichen Leben der Patienten einzuführen. Darüber hinaus werde es den Pharmaunternehmen ermöglichen, Daten aus der Praxis zu sammeln, um festzustellen, ob die derzeitigen Behandlungen wirksam sind, und um Populationen besser auf potenzielle Anomalien zu untersuchen.

In einer kürzlich durchgeführten Studie zusammen mit dem Institut für Bioengineering von Katalonien (IBEC) und der Abteilung für Lungenheilkunde im Ziekenhuis Oost-Limburg (ZOL) wurde ein erster Prototyp zur Erfassung der Atemwege an COPD-Patienten getestet. COPD ist weltweit eine der häufigsten Todesursachen. Die aktuelle Diagnose von COPD und die Beurteilung ihres Schweregrades erfordern einen Spirometrie-Test, ergänzt durch Informationen aus Fragebögen. »Das Intervall dieser Tests und die Subjektivität der Fragebögen ist für den komplexen klinischen Zustand von COPD-Patienten nicht ideal«, erklärt Willemijn Groenendaal, leitende IMEC-Wissenschaftlerin.

Im klinischen Umfeld des Krankenhauses verwendeten die Forschungspartner neben dem Gerät Messung der Bioimpedanz auch ein Desktop-Gerät zur Bestimmung von Muskelsignalen (Elektromyographie und Mechanomyographie). In Zukunft könnten all diese Messungen in einem tragbaren Gerät kombiniert werden. Das Ziel dieser Studie war es zunächst, das Potenzial dieser Signale für COPD-Patienten zu untersuchen. »Wir haben vier Untersuchungsgeräte entwickelt, die wir als 24/7-Datenerfassungsplattform einsetzen«, erläutert Agell. Dazu gehören: Health Patch Einweg- & Komfortgerät, Nightingale Mehrweg- & flexibles Multisignalgerät, Chill+ Plattform für psychische Gesundheit sowie Kardio-Uhr zur Herzüberwachung.

Der Formfaktor, in dem diese Atmungssensoren verpackt werden können, ist flexibel. Es kann ein Pflaster (Einweg- oder wiederverwendbar), ein Brustgurt, eine Halskette oder ein Sensor-Shirt sein. Die Sensoren können nach Aussage der Wissenschaftler sogar in eine Matratze, einen Bürostuhl oder einen Autositz integriert werden. »Es hängt alles von der spezifischen Anwendung ab.«

Schema Algorithmen-Ebenen für COPD-Anwedungsfall
Schema Algorithmen-Ebenen für COPD-Anwendungsfall
© IMEC

Entwicklung der Algortihmen und Systemdesign

Von den COPD-Patienten wurden die Daten mit dem Forschungsgerät und einem drahtgebundenen Standarderfassungssystem erfasst. Als nächstes wurden Algorithmen entwickelt, um aus diesen Daten sinnvolle Informationen zu generieren. Willemijn Groenendaal: »Normalerweise entwickeln wir drei Arten von Algorithmen: Algorithmen auf Signalebene, Algorithmen auf Digital-Biomarker-Ebene sowie Algorithmen auf Anwendungsebene«. Für die zweite und dritte Ebene verwenden die Wissenschaftler Künstliche Intelligenz (KI). »Dabei konzentrieren wir uns auf erklärbare oder White-Box-KI, weil wir glauben, dass Ärzte in der Lage sein müssen, zu verstehen, warum das System eine bestimmte Entscheidung trifft, um bei Bedarf eingreifen zu können«, so  Groenendaal weiter. 

Um wirklich kompakte und bequem tragbare Überwachungsgeräte zu entwickeln, ist auch das Chip- und Systemdesign von entscheidender Bedeutung. »Das Herzstück unserer Plattform für tragbare Gesundheitsgeräte ist ein vollständig integrierter batteriebetriebener drahtloser Sensor-Hub«, so Agell. Er kann mehrere Parameter gleichzeitig messen (EKG, PPG, BioZ), verbrauche dabei aber nur sehr wenig Strom und biete ein hohes Maß an Sicherheit.

Fazit & Ausblick

»Tragbare sensorische Geräte sind heute zuverlässiger, intelligenter und einfacher zu bedienen als ihre Vorgänger«, sagt Agell. Sie stellen auf unterschiedliche Weise bessere Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten für Atemwegserkrankungen bereit. Davon profitieren Patienten, Ärzte und Forschung gleichermaßen – nicht zuletzt aufgrund der erhobenen Daten. Ärzte erhalten so reale Werte über den Zustand ihres Patienten und können ihn auch außerhalb der Klinik genau beobachten. Krankenhausaufenthalte  könnten sich so verkürzen und reduzieren.

Es können zudem mehr Menschen auf den Zustand der Atemwege überprüft und diese Daten - in Kombination mit anderen Messungen und dem Fachwissen des Arztes – genutzt werden, um auch leichtere Erkrankungen der Atemwege zu diagnostizieren oder um die Wirksamkeit von Medikamenten, sowohl in klassischen randomisierten Kontrollstudien als auch unter realen Bedingungen, zu untersuchen. Für den einzelnen Patienten heißt das wiederum: Der Behandlungsplan kann individuell angepasst werden.


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