Beatmungsgeräte

»Das ist auch für uns eine Ausnahmesituation«

15. April 2020, 8:30 Uhr | Melanie Ehrhardt
Blick in die Montagelinie für die Beatmungsgeräte
© Seat

Nachgefragt: Wie hat es Seat geschafft, seine Fertigung auf Beatmungsgeräte umzustellen?

Aufgrund des starken und schnellen Anstiegs von Covid-19-Infektionen werden die dringend benötigten Beatmungsgeräte in den Krankenhäusern knapp. Hilfe kommt unter anderem aus der Automobilindustrie. Verschiedene Hersteller haben angekündigt, entsprechende Geräte zu bauen. Neben der anfänglichen Freude über diese Unterstützung breitet sich zunehmend Skepsis aus. »Beatmungsgeräte kann man nicht einfach auf Automobillinien bauen«, sagt Jean Haeffs, Geschäftsführer der Fachgesellschaft Produktion und Logistik beim VDI. Dem pflichtet Harri Friberg, CEO bei IMT, bei und ergänzt: »Nur Experten sollen Beatmungsgeräte bauen.«

Zugegeben, auch ich war zunächst etwas skeptisch. Die Nachricht, dass die spanische VW-Tochter Seat nach kürzester Zeit eine Montaglinie »ready for Medizintechnik« gemacht hat, klingt einfach zu schön, um wahr zu sein. Was tun? Die Meldung ignorieren und darauf hoffen, dass die anderen Recht haben. Unmöglich, denn meine Neugierde war bereits geweckt. Die Lösung: Nachfragen! Denn Fragen kostet ja bekanntlich nichts. Als erstes versuchte ich es bei Volkswagen. Deren Antwort, dass meine Fragen nun bei den spanischen Kollegen liegen, sorgte jedoch für Ernüchterung. Denn danach passierte erst einmal nichts: kein Anruf, keine Email. Und im Grunde hatte ich es schon aufgegeben; dachte das wird nichts. Bis ich gestern Morgen eine Email von Seat in meinem Postfach hatte – mit Antworten: 


Wie hat es Seat geschafft, die Produktion in so kurzer Zeit umzustellen?

Im Kontext der Notsituation, in der wir uns gerade befinden, konnten wir unsere Einrichtungen in kurzer Zeit für die Herstellung  der Geräte anpassen. Dafür haben wir einen kleinen Teil der Produktionslinie für Autos abgebaut, desinfiziert und angepasst. Dank der Kreativität des Teams können wir zum Beispiel unserer Scheibenwischermotoren für die Herstellung der Beatmungsgeräte verwenden. Für andere Bauteile setzen wir unter anderem den 3D-Druck ein.

Produzieren Sie eigene Geräte oder produzieren Sie für einen Hersteller aus der Medizintechnik?

Das Projekt ist eine Zusammenarbeit von Ingenieuren, die das Gerät konzipiert und zur Produktion gebracht haben, des Seat Health and Safety-Teams sowie Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen. Die Bauanleitung für das Beatmungsgerät OxyGEN ist dank des Start-ups Protofy.XYZ frei zugänglich. Unter der medizinischen Koordination verschiedener Ärzte* wurde es in den letzten zwei Wochen weiter bearbeitet und schließlich umgesetzt. Im Industrialisierungsprozess haben verschiedene Partner unter der Leitung von Seat zusammengearbeitet. 

Wer ist in diesem Projekt alles involviert?

Ein Team mit über 150 Mitarbeitern aus verschiedenen Bereichen des Unternehmens war an der Entwicklung der Notfallbeatmungsgeräte beteiligt. Wir erhielten zudem wissenschaftliche Unterstützung vom Hospital Clínic in Barcelona, dem Hospital Germans Trias i Pujol, vom Hospital del Mar und der Universität von Barcelona sowie von verschiedenen Partnern aus Forschung und Industrie.**

Wie haben Ihre Zulieferer darauf reagiert? Können Sie auf Unternehmen zurückgreifen, die bereits im Markt für medizinische Geräte vertreten sind?

Wir haben ein spezielles Beschaffungsteam für das Notfallbeatmungsprojekt eingerichtet. Die meisten Blechteile, Wellen, Zahnräder und Nocken werden in den Werken von Seat Martorell, Seat Componentes und Seat Barcelona hergestellt. Die Elektronik wird von Logistikaggregatoren ausgeführt, die regelmäßig mit uns zusammen arbeiten. Die restlichen Komponenten werden vollständig in den eigenen Produktionslinien hergestellt.

Hatten Sie Probleme bei der Zulassung?

Die Notfallbeatmungsgeräte wurden von der spanischen Agentur für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (AEMPS) auf ihre Zulassung hin getestet und haben die erforderlichen Tests bestanden. Sie sind demnach für die klinische Forschung zugelassen. Das spanische Gesundheitsministerium unterstützte uns ebenfalls im Rahmen der Zulassung. 

Wie werden die Geräte in Verkehr gebracht bzw. wer bringt diese in den Verkehr?

Die Genehmigung bedeutet, dass das Notfallbeatmungsgerät bei Krankenhauspatienten angewendet werden kann, solange aufgrund von COVID-19 die Ausnahmesituation besteht, in der extra medizinische Ausrüstung erforderlich ist. Wir liefern die Geräte nur an spanische Krankenhäuser, die uns vom Gesundheitsministerium genannt werden, das ist in der Lage ist, die Bedürfnisse zu priorisieren, sowie an unsere Projektpartner (das Krankenhaus Clínic und die Krankenhaus Germans Trias i Pujol). 

Wie viele Geräte konnten Sie bereits produzieren und was kosten diese?

Seit Beginn der Produktion haben wir mehr als 200 Notbeatmungsgeräte hergestellt und an mehr als 40 Krankenhäuser in Spanien ausgeliefert. Für die Kliniken entstehen keine Kosten, wie stellen die Geräte kostenlos zur Verfügung.

Liefern Sie die Beatmungsgeräte zukünftig auch in andere Länder?

Die AEMPS-Sondergenehmigung ist nur für Spanien gültig. Wenn wir Anfragen aus anderen Ländern bekommen, leiten wir die an die spanischen Behörden weiter. Damit auch andere Branchen und Unternehmen unsere Geräte herstellen können, stellen wir die Informationen kostenlos zur Verfügung. 

Das ist zwar noch weit weg: Aber ist die Medizintechnik ein Markt, der auch nach Corona für einen Automobilkonzern interessant ist oder ist das ein einmaliger Ausflug?

Wir sind nicht auf dem Markt für medizinische Geräte und werden es niemals sein. Dies ist ein einzigartiger Fall, in dem wir helfen können, die aktuelle Pandemie zu bewältigen. Nach dem Ende der COVID-19-Pandemie werden wir unsere üblichen Aktivitäten als Automobilhersteller wiederaufnehmen und die Notbeatmungsgeräteproduktion abgeben.

* Dr. Manel Puig Domingo (Untersuchungsinstitut Trias y Pujol), Dr. Oriol Estrada (Krankenhaus Trias i Pujol) und Dr. Josep María Nicolás (Krankenhaus Clínic)

** Weitere an dem Projekt beteiligte Einrichtungen waren das Forschungsinstitut Germans Trias y Pujol (IGTP), CMCiB (Katalanisches Zentrum für Vergleichende Medizin und Bioimaging), Recam Laser, Doga Motors, Luz Negra, LCOE (offizielles zentrales Automatisierungslabor), Ficosa, Bosch, IDNEO, Secartys, Espiroflex und Gaso.


Hintergrund

Seit Anfang April produziert Seat Notfallbeatmungsgeräte beziehungsweise eine Kiste mit 119 Teilen, einem Netzgerät und einem Dimmer. Der Dimmer stellt die Geschwindigkeit ein, mit der ein Beatmungsbeutel zusammengedrückt wird. Dazu gehört zudem ein Mundstück und ein Nasenstück. Den Balg mit der Verschlauchung zum Patienten liefert der Konzern laut eigener Aussage nicht. Von ihm kommt die Kiste mit einer Wippe, einer Feder und einem Motor. Über einen Mechanismus drückt die Wippe auf den Balg und darüber lässt sich das Volumen pro Atemhub regeln. Der Dimmer steuert die Frequenz. Bei dem Antrieb handelt es sich um einen rein mechanischen, der schnell auf andere Patienten umgestellt werden kann.
Quelle: www.zeit.de 
 


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